Fußball-WM im Fernsehen: Die Welt aus der Maschine
Seit dem Achtelfinale werden die WM-Partien als Spektakel inszeniert. Allzu rasant dürfen die Bilder aber nicht sein - das Auge verlangt nach Übersichtlichkeit.
BERLIN taz | Als Luis Suárez am Freitagabend in der allerletzten Minute der Verlängerung des Viertelfinals den Ball mit der Hand von Linie boxte, sah man dies in Montevideo und Bielefeld, in Accra und Las Vegas in exakt den gleichen Bildern und Perspektiven. Die an der Mittelfeldlinie postierte Kamera zeigte Ghanas wütenden Angriff, die Abwehrschlacht im uruguayischen Strafraum, schließlich Suarez Handspiel.
In Nahaufnahme erkannte man, wie der Schiedsrichter dem uruguayischen Notverteidiger Suarez die Rote Karte zeigte. Dann in Nahaufnahme das Antlitz des ghanaischen Stürmers Gyan, der per Elfmeter nun alles entscheiden kann. Ein Zwischenschnitt zeigt Suárez, der sich jenseits des Spielfelds schamvoll die Hand vor das Gesicht hält. Dann eine Totale auf das Spielfeld, Gyan und der uruguayische Torwart. Knapper Anlauf, der Ball kracht an die Latte.
Ein Schnitt, dann berührt Fernando Muslera, der Torwart der Lateinamerikaner, wie in einem magischen Ritual mit der Hand die hilfreiche Latte. Schnitt, eine Nahaufnahme zeigte Gyan, der sich die Hände vor das Gesicht hält, so als wolle er genau in dem Moment, in dem alle Blicke im globalen Dorf auf ihn gerichtet waren, unsichtbar werden. Die Geste der Scham hatte die Mannschaft gewechselt. Wie im Theater erkannte man Sieger und Verlierer an Mimik und Gestik.
Die Elfmetersequenz dauert knapp 20 Sekunden, aufgelöst in sieben Szenen und Perspektiven. Wie der Elfmeter geschossen wird, sieht man in einer Totalen, die der Perspektive des Publikums auf der Haupttribühne im Stadion entspricht. Alle anderen Bilder, virtuos und schnell montierte Nahaufnahmen, sieht kein Stadionzuschauer. Sie verwandeln das Fußballspiel in einen spektakulären, von etwa 20 Kameras inszenierten Bilderreigen, der uns die Illusion beschert, jederzeit überall dabei zu sein.
Diese Bilder aus Südafrika sind überall auf dem Globus die gleichen. HBS, der Host Broadcast Service der Fifa, produziert und vermarktet sie weltweit. Bei den Olympischen Winterspielen konnten ARD und ZDF aus dem gelieferten Material auswählen und die Blicke mit eigener Bildregie lenken. Bei dieser WM, mit der der Fifa 2,8 Milliarden Euro einnimmt, nicht.
Diese HBS-Bilder haben sich seit der WM-Vorrunde verändert. Sie sind schneller, hektischer, reicher an Perspektivwechseln geworden. Bei den Gruppenspielen dominierte die Standardperspektive. Die Kamera war durchweg an der Mittellinie postiert und folgte in Halbtotalen und mit unauffälligen Zooms dem Geschehen rund um den Ball. Dieser Blick wurde gelegentlich durch Superzeitlupen unterbrochen. Doch abgesehen davon sahen manche Vorrundenpartien minutenlang so aus wie in den Siebzigern und Achtzigern, als es noch keine digitalen Bilder, keine Kameras mit Extrembrennweiten, keine auf Kränen und an Ballons montierten Kameras in und über dem Stadion gab.
Seit dem Achtelfinale sind die Bilder anders. Das liegt auch an den Spielen selbst, die dramatischer geworden sind. Aber die HBS-Bildregie befördert diesen Eindruck kräftig. Auch Szenen im Mittelfeld werden öfter in einem Bilderstakkato dramatisiert. Die Halbtotale von der Mittellinie, die dem Blick im Stadion gleicht, wird von Nahaufnahmen von Spielern, Trainern, Zuschauer unterbrochen. Auch kleine Fouls werden in Zeitlupe und Detailaufnahmen wiederholt, brechen so das Zeitkontinuum auf.
So verwandelt sich ein Sportereignis mittels einer dem Kino entlehnten Überwältigungsästhetik, mit schnellen Schnitten, Zeitlupen, Perspektiv- und Einstellungswechseln in ein Bilderspektakel. Gelegentlich verweisen Zeitgenossen mit kultur- und ideologiekritischem Stirnrunzeln auf Leni Riefenstahl, die diese Ästhetik erfunden hat. Riefenstahl hat in ihrem Olympiafilm aus dem Jahre 1936 effektvoll Sport als Drama von Körpern, Helden und Verlierern inszeniert.
Die WM-Bilder aus Südafrika sind anders. Sie haben mit dem Körperfetischismus und Erhabenheitskitsch à la Riefenstahl wenig gemein. Und es ist sowieso ein Unterschied ums Ganze, ob Bilder mit Orchestralem von Richard Strauss unterlegt sind oder mit Vuvuzelagetröte.
Die Blaupause für die WM-Bilder stammt eher aus den maschinengläubigen Träumen sowjetischer Futuristen in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Dsiga Wertow entwarf das "Kinoauge", das als neues Subjekt den alten, bürgerlichen Menschen ablösen sollte. "Ich bin", so heißt es in Wertows berühmten Manifest von 1923, "ein mechanisches Auge. Ich, die Maschine, zeige euch die Welt so, wie nur ich sie sehen kann. Ich befreie mich von der menschlichen Unbeweglichkeit. Ich bin in ununterbrochener Bewegung, ich nähere mich Gegenständen und entferne mich von ihnen, ich krieche unter sie, ich klettere auf sie, ich bewege mich neben dem Maul eines galoppierenden Pferdes, ich rase in voller Fahrt in die Menge, ich werfe mich auf den Rücken, ich erhebe mich zusammen mit Flugzeugen, ich steige und falle zusammen mit aufsteigenden und fallenden Körpern."
So ähnlich sehen die digitalen Bilder von der südafrikanischen WM aus. Hurtige Schnitte, fast porentiefes Dabeisein. Die Kameras sehen alles, die Begrenztheit menschlicher Unbeweglichkeit ist gesprengt. Vor dem Spiel sind wir mit den Helden in den Katakomben und schauen in ihre konzentrierten Gesichter, so als würden wir neben ihnen stehen. Bevor die Nationalhymnen erklingen, sehen wir das Stadion aus hundert Meter Höhe, dann scheint die Kamera in die Tiefe zu stürzen wie ein Raubvogel, um Sekunden danach in Nahaufnahme die ernsten Gesichter der in einer Linie aufgereihten Spieler zu präsentieren. Es sind Bilder wie im Kino, die eine Art totaler Präsenz und visueller Beherrschung des Raumes suggerieren. Das Spiel ist nur Material, das die digitalen Maschinen und die Regisseure an den Mischpulten zum visuellen Strom formen.
Wahrscheinlich können diese Bildermaschinen, zumal in 3-D, noch viel mehr. Sie können noch schneller Totalen und Nahaufnahmen ineinanderschneiden, das Spiel noch präziser und näher vors Auge rücken. Wahrscheinlich ist dies erst der Anfang. Die Grenzen dieser Inszenierung sind nicht technischer Natur - sie liegen in unserer Wahrnehmungsfähigkeit. Bei der WM 1998 in Frankreich kamen Reverse-Angle-Wiederholungen in Mode, die das Geschehen von der anderen Seite des Spielfeldes zeigten.
Das Ergebnis war, dass manche Zuschauer nicht immer im Bilde waren, welche Mannschaft gerade auf welches Tor spielt, eine nicht ganz unwichtige Frage. Das Publikum ist leicht irritierbar, das Auge ein träges Sinnesorgan. Schon in Wertows Traum von den Bildermaschinen war das Menschliche ein Störfaktor.
Bald wird man mal wieder ins Stadion gehen. Und sich, wenn bei Union Berlin gegen Paderborn der Ball an die Latte geknallt ist, blöde staunend fragen, wo die Superzeitlupe bleibt.
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