Fukushima sechs Monate nach Super-GAU: Die Katastrophe als Alltag

Die Gegend um das havarierte AKW Fukushima ist verstrahlt, die Reaktoren bröckeln. Und doch sind alle froh, dass die Lage nicht noch schlimmer ist.

Polizisten in Schutzuniform in Fukushima, aufgenommen im April. Bild: reuters

BERLIN taz | Die Halbwertszeit für die Aufmerksamkeit gegenüber einer Atomkatastrophe beträgt deutlich unter sechs Monate. Denn die Meldungen aus Fukushima Daiichi sorgen zumindest außerhalb von Japan nicht mehr für Schlagzeilen, auch wenn sie dramatisch sind: hohe Strahlenbelastung in der Sperrzone, verseuchte Lebensmittel, das Durchschmelzen des nuklearen Kerns aus seinem Gehäuse, permanente Umsiedlung der Bevölkerung. Ein halbes Jahr nach dem Beginn des Atomunfalls am 11. März ist die Katastrophe zum Alltag geworden.

Dabei gibt es immer wieder genügend Grund zur Beunruhigung: So hat Ende August eine offizielle Messreihe an 2.200 Punkten in der Sperrzone ergeben, dass sechs Ortschaften dort sehr stark mit radioaktivem Cäsium belastet sind. Die Verseuchung des Bodens ist so hoch, dass sie die Grenzwerte überschreiten, nach denen die sowjetischen Behörden 1986 nach der Tschernobyl-Katastrophe Dörfer zwangsweise evakuierten. An 34 Punkten wurden nach einem Bericht der Zeitung Daily Yomiuri die Grenzwerte von 1,48 Millionen Becquerel (Bq) überschritten. An weiteren 132 Punkten lag die Strahlung über der Grenze, an der bei Tschernobyl die Landwirtschaft untersagt wurde und freiwillige Evakuierungen vorgenommen wurden.

Dazu passt die erste Abschätzung des japanischen Ministeriums für Wissenschaft und Erziehung über die Strahlendosen, mit denen die Umgebung des havarierten AKW über ein Jahr belastet wird. Der höchste Wert liegt bei 508 Millisievert, also mehr als 500-mal so hoch wie das allgemein akzeptierte Strahlenrisiko von 1 Millisievert pro Jahr. Bei den insgesamt 50 Orten, für die die Werte kalkuliert wurden, lagen 7 über 100 und 35 über 20 Millisievert.

Eine Todeszone wie in Tschernobyl

Experten vermuten schon länger: Ähnlich wie in Tschernobyl wird es auch in Fukushima eine "Todeszone" geben, in der sich Menschen nicht permanent aufhalten dürfen. Der damalige japanische Premierminister Naoto Kan hatte bereits früher gesagt, es bestehe die "Möglichkeit, dass die Einwohner nicht dauerhaft in ihre Heimat zurückkehren könnten". Jetzt forderte Mamoru Fujiwara, Nuklearphysiker von der Uni Osaka, gegenüber dem Wall Street Journal, die Regierung solle klar sagen, dass die Menschen "auf Dauer umgesiedelt werden müssten", statt sie in Provisorien wohnen zu lassen.

Auch die Lage der Reaktoren bleibt brenzlig. In Reaktor 3 ist es wohl doch zum größten angenommenen Unfall gekommen, und der geschmolzene Reaktorkern hat sich durch den Reaktordruckbehälter gebohrt. Laut Berechnungen von Fumiya Tanabe, einem ehemaligen leitenden Wissenschaftler am offiziellen Japan Atomic Energy Research Institute, hat sich bereits Mitte März der Kern so weit aufgeheizt, dass die Schutzhalle ihn nicht mehr halten konnte. Gegenüber der Zeitung Asahi Shimbun sagte Tanabe, diese zweite Kernschmelze habe "große Mengen radioaktiven Materials freigesetzt" und dazu geführt, dass "ein großer Teil des Brennstoffs aus dem Druckbehälter in die äußere Schutzhülle gefallen ist". Zudem gibt es Hinweise auf eine "Rekritikalität" der geschmolzenen Kerne, den partiellen und unkontrollierten Wiederbeginn einer nuklearen Kettenreaktion, die sich praktisch selbst an- und abschaltet.

Eine solche Entwicklung ist von Tepco möglich gehalten, aber nie bestätigt worden. Deutsche Experten halten dieses Szenario für glaubwürdig. "Es ist ziemlich sicher, dass der Druckbehälter bei einer solchen Belastung teilweise versagt", sagt Sven Dokter von der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS). Bisher sei von einem sicheren Ruhezustand der Anlage, den die Betreiber anstreben, wenig zu sehen: Temperaturen oder Druck seien weit genug vermindert, die Strahlung am Reaktor sei nach wie vor sehr hoch: Laut Tepco sind es direkt im Schutzmantel etwa 3.500 Millisievert – "da kann niemand arbeiten".

Gerade die Unsicherheiten über den Zustand der Anlage findet Michael Sailer vom Ökoinstitut, ehemals Chef der deutschen Reaktorsicherheitskommission (RSK), beunruhigend. Um die Anlage unter Kontrolle zu haben, dürfe keine Strahlung mehr austreten, die Kühlung und die Energieversorgung müssten stabil sein. Es trete aber noch Strahlung aus, und wie Kühlung und Stromversorgung auf Störungen wie Stürme reagierten, "weiß man nicht genau", so der Experte. Die Lage der Atomruine scheine "auf einem sehr ungesunden Level stabil".

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.