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Für einen olympischen Moment Berühmtheit

Geht es bei Olympischen Spielen wie denen in Sydney um Völkerverständigung? Vielleicht.Um Medaillen? Sicher auch. Im Mittelpunkt für das Publikum aber stehen jene HeldInnen, mit denen zuvor niemand gerechnet hat

von JAN FEDDERSEN

Illusionen über das System des Internationalen Olympischen Komitees zu hegen ist vergeblicher denn je. Thomas Kistner und Jens Weinreich, Sportredakteure der Süddeutschen Zeitung und der Berliner Zeitung, haben es in ihrem aktuellen Buch mit dem sprechenden Titel „Der olympische Sumpf. Die Machenschaften des IOC“ hinlänglich beschrieben. Dass die Vergabe der Olympischen Spiele – die 1984 mit Los Angeles als Austragungsort für die gastgebende Stadt erstmals ein profitables Unternehmen waren – niemals einem transparenten Verfahren unterworfen war, ist gewiss.

Dass das Gremium selbst, das IOC, einem korrupten und von jeder politischen Kontrolle unabhängigen Geheimzirkel ähnelt, ist offenbar. Dass die Olympischen Spiele im Jahr 2000 nicht deshalb in Sydney stattfinden, weil das IOC dort eine günstigere Menschenrechtssituation vorfand als beim konkurrierenden Kandidaten Peking, sondern weil die australischen Bewerber vor sieben Jahren schlicht und einfach die besseren, also finanziell besser ausgerüsteten Lobbyisten engagiert hatten, gilt als gesichert.

Selbst Salt Lake City – eine schöne, wenn auch etwas langweilige, weil von den Mormonen dominierte Metropole im Nordwesten der USA –, wo in anderthalb Jahren die Olympischen Winterspiele stattfinden werden, fand nur deshalb Gnade vor den Juroren des IOC, weil es die „Herren der Ringe“ (IOC-Kritiker Andrew Jennings) optimal günstig zu stimmen wusste, und zwar mit Stipendien, Grundstücken und Diensten aus dem Escortservice. Oder Sestriere, ein Ort in den italienischen Savoyen, den es vor dreißig Jahren nicht gab, den aber der Agnelli-Clan aus der Retorte stampfen ließ, um möglichst schnell zum Skilaufen zu gelangen. Dieser Flecken, eine Autostunde nördlich von Turin, erhielt voriges Jahr den Zuschlag, im Jahre 2006 die Winterspiele veranstalten zu dürfen.

Die Bewerbung war nach Expertenmeinung zwar dürftig, jedenfalls nicht so professionell und ökologisch beschützend wie die der schweizerischen Stadt Sion. Aber die Schweiz war aus dem Kandidatenrennen geflogen, weil es einer ihrer Staatsbürger war, der den so genannten „IOC-Skandal“ Ende des Jahres 1998 mit offenherzigen Bekenntnissen zu den wahren Funktionsweisen in der olympischen Funktionärsriege in Lausanne ausgelöst hatte.

Marc Hodler, einst Präsident des mächtigen Skiverbandes, war so frei, jene Dinge auszuplaudern, die für den IOC-Präsidenten Juan Antonio Samaranch einer „Nestbeschmutzung“ gleich kamen – weil Hodler sie nicht wie alle anderen für sich behielt. Keinen einzigen der Vorwürfe konnte der greise, doch nach wie vor mächtige Juan Antonio Samaranch bis heute entkräften.

Was Autoren wie Kistner, Weinreich und Jennings berichteten, war freilich nicht wirklich überraschend, denn wir – das gewöhnliche Publikum – hatten ohnehin nicht damit gerechnet, dass die wirkliche Welt vor den Türen der olympischen Bewegung aufhört, dass also auch dort Intrigen und üble Nachrede, Missgunst, Neid und Eifersucht, Lug und Betrug vorkommen. Niemandem war unbekannt, dass viele der IOC-Mitglieder politisch eher faschistischen Regimen zuneigten, insbesonderen deren Chef Samaranch, der im Spanien der Falangisten ein glühender Bewunderer General Francos war.

Und trotzdem werden die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten hierzulande wie auch die TV-Organisationen in den meisten anderen Ländern sehr, sehr gute Quoten mit ihren Übertragungen von den Olympischen Spielen erzielen. Und das nimmt doch wunder, schließlich werden, so belegen es Untersuchungen aus den USA und Großbritannien und so lauten auch entsprechende Einschätzungen von ARD und ZDF, vom Publikum alle offensichtlich militärischen, soldatischen oder mächtigen Gesten während sportlicher Wettkämpfe abgelehnt, es sei denn, sie sind beim einzelnen Sportler sichtbar. Gefragt ist eine Inszenierung, die multikulturell angelegt ist und die Idee transportiert, dass alle Menschen Geschwister werden.

Vielleicht verhält es sich so, dass Olympische Spiele gemocht werden – trotz der Machenschaften des IOC. Und das liegt wohl daran, dass in der olympischen Idee selbst alle Ingredienzen enthalten sind, die ausblenden, dass die Welt keine von Geschwistern ist, sondern eine von Armen und Reichen, von Wohlhabenden und Aufsteigern und Habenichtsen. Die symbolische Welt der Olympischen Spiele ist naturgemäß vollständig egalitär. Fünf Ringe, einen für jeden Kontinent, zeigt die olympische Flagge in gleicher Größe – obwohl der europäische Ring, gemessen an den sportlichen Erfolgen, der größte sein müsste. Jeder Sportler, jede Sportlerin erhält die gleiche Chance, egal aus welchem Land er oder sie stammt.

Das Prinzip der Fußballweltmeisterschaften, nur zuvor qualifizierte Länder am Finalturnier teilnehmen zu lassen, ist eines vom survival of the fittest. Aber eine begnadete Sportlerin aus einem, beispielsweise, afrikanischen Land kann eine Goldmedaille gewinnen, obwohl ihr Staat sonst sportlich keinen Blumentopf gewinnen würde. Hassiba Boulmerka aus Algerien zum Beispiel bestieg 1992 in Barcelona über 1.500 Meter das oberste Podest. Ihr sensationeller Sieg fand bei islamischen Fundamentalisten in ihrem Land nur wenig Gefallen, schließlich hatte die Leichtathletin – acht Jahre nach ihrer Goldmedaille nach wie vor ein Idol der algerischen Frauenbewegung – mehrmals öffentlich zu verstehen gegeben, dass sie sich niemals unter Kopftüchern verstecken lassen werde.

Solche magischen Momente – wenn ein Sportler gegen alle Prognosen gewinnt – hat es in der olympischen Geschichte immer wieder gegeben. Und deshalb übte dieses höchstdimensionierte Sportfest auch immer eine Faszination aus, die Weltmeisterschaften in den jeweiligen Sportdisziplinen nie wecken konnten. (Wann sonst, wenn nicht bei Olympischen Spielen, interessieren Athleten aus dem Schießsport?)

Nie waren es SportlerInnen mit begütertem Hintergrund, mit denen das Publikum mit litt, wenn sie um eine Medaille kämpften. Eine Dressurreiterin wie Isabelle Werth wird, auch wenn sie in Sydney wieder Gold gewinnen sollte, nie in die Herzen der Zuschauer aufgenommen, denn dafür sieht ihre Sportart erstens zu smart aus, und zweitens hat die Reiterin selbst eine Ausstrahlung, die kein Mitfiebern nötig zu machen scheint, weil sie es ohnehin im Leben geschafft hat. Anderen flogen die Sympathien des Publikums umso bereitwilliger zu. 1960 in Rom der amerikanischen Sprinterin Wilma Rudolph, weil sie schwarzhäutig war und vor ihrer Laufkarriere unter Kinderlähmung litt. Oder 1964 in Tokio dem deutschen Zehnkämpfer Willi Holdorf, weil er buchstäblich bis zur Erschöpfung kämpfte. 1968 in Mexiko-Stadt war es die tschechoslowakische Turnerin Věra Časlavská, deren Land Wochen zuvor von den Truppen des Warschauer Pakts überfallen wurde und die nicht nur wegen ihres eleganten Stils Bewunderung und Beifall einheimste; bei der gleichen Gelegenheit erregte eine direkt politische Geste wohlwollende Aufmerksamkeit, als Tommie Smith und John Carlos, Sieger und Dritter beim 200-m-Lauf, bei der Siegerehrung aus Solidarität mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung die Fäuste hoben – woraufhin die Leitung des US-Olympiateams beide nach Hause schickte.

Eine Olympiade später war die Bundesrepublik Deutschland Gastgeberin der Sommerspiele. In München sollte gezeigt werden, dass das neue Deutschland nichts mehr mit Riefenstahl’scher Ästhetik der Spiele von Berlin 1936 zu tun hatte. Heitere, fröhliche Spiele sollten es werden. Eine Sechzehnjährige namens Ulrike Meyfarth besiegte als krasse Außenseiterin die gesamte Hochsprungelite.

Heide Rosendahl – supermodisches Markenzeichen: eine hippieske Nickelbrille – siegte im Weitsprung; erinnerlich aus diesem Wettkampf sind weniger ihre Sprünge als vielmehr ihre Vorbereitungen vor dem Anlauf. Da wippte sie mit dem Körper sacht hin und her, hielt ihre linke Hand vor sich und ließ einige Grashalme fallen, um die günstigsten Windbedingungen auszuloten. Dass am Ende dieses sportliche Woodstock zerstört wurde, lag nicht an den Veranstaltern, sondern an einem palästinensischen Terrorkommando, das der laxen Sicherheitsbestimmungen wegen die israelische Olympiaequipe in Geiselhaft nehmen konnte und elf ihrer Mitglieder erschoss.

The games must go on deklamierte der damalige amerikanische IOC-Präsident Avery Brundage während der Trauerfeier im Münchner Olympiastadion. Er tat dies nicht aus Kaltherzigkeit oder Zynismus, wie dies bei seiner Person nahe gelegen hätte, sondern auch auf Wunsch vieler SportlerInnen, die sich bei einem Abbruch der Spiele um ihre einmalige Medaillenchance gebracht gesehen hätten. Und wem wäre damit auch gedient gewesen?

Helden und Heldinnen wurden seither immer wieder geboren. Und es waren stets solche, die überraschend gewinnen konnten, die sämtliche Prognosen von Medaillenplanern über den Haufen warfen. 1976 die Dortmunderin Annegret Richter, die schneller als die DDR-Sprinterin Renate Stecher war. Oder der Ruderer Pertti Karpinen aus Finnland, der den Hamburger Peter-Michael Kolbe um dessen sicher geglaubte Goldmedaille brachte.

Vier Jahre später hing bei den bundesdeutschen SportlerInnen die Stimmung durch. Die Politik verlangte von ihren Verbänden, die Moskauer Spiele zu boykottieren, um gegen den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan zu protestieren. Ein Zehnkämpfer wie Guido Kratschmer oder ein Läufer wie Thomas Wessinghage sahen sich um ihre Medaillenträume betrogen, zumal bei der entscheidenden Abstimmung vor allem die Wintersportverbände – die ihre olympischen Spiele ein halbes Jahr zuvor im amerikanischen Lake Placid absolvieren konnten – gegen die Teilnahme in Moskau votierten.

1984 war es ein Schwimmer, der zum Helden avancierte, der Offenbacher Michael Groß. In einem spannenden 100-m-Schmetterlingsfinale wie auch über 200 m Freistil war er der Sieger – und ward daraufhin wegen seiner langen Arme „Albatros“ genannt. Groß, der vier Jahre später in Seoul über 200 m Schmetterling abermals Gold holen konnte, ist ein schönes Beispiel für ein weiteres olympisches Geheimnis: Ein Sportler kann, gemessen an Fotomodellen, unscheinbar sein – und bekommt doch den nötigen Respekt gezollt und manchmal auch die Liebe, wenn er bravourös gekämpft hat. Ein Michael Groß hätte in keiner Discothek den Latin Lover abgegeben, eine Diskuswerferin wie Ilke Wyludda hätte sich vermutlich unter gewöhnlichen Umständen nicht einmal in ein solches Etablissement getraut. Selbst ein Zehnkämpfer wie Frank Busemann wäre ohne seinen Sport ein Nobody – immer ein wenig ungelenk wirkend, zu schüchtern und zu defensiv, um den Helden zu geben.

Kennt jemand noch den Schützen Christian Klees, 1996 in Atlanta der erste deutsche Olympiasieger? (Der übrigens die Qualifikation für Sydney verfehlte.) Für wenigstens sieben TV-Interviews, eine Siegerehrung samt Nationalhymne und einen Empfang in seiner Heimatstadt Eutin war sein Sieg gut und brachte ihm (und seinem Sport) eine Aufmerksamkeit, die es ohne Olympische Spiele nie gegeben hätte.

Olympische Spiele sind das einzige Ereignis, bei dem Schöne und Menschen wie du und ich die gleichen Chancen haben. Selbst beim Frauenturnen gewinnen meist die sportlichsten und nicht die so genannten fraulichsten Athletinnen. (Einziger Schönheitsfehler in Sydney: aktueller US-Meister beim Synchronschwimmen wurde ein Mann – aber den zur olympischen Konkurrenz zu entsenden, verbat sich der Internationale Schwimmverband.) Das macht den unschlagbaren Reiz dieses Ereignisses aus – und das goutieren die Zuschauer in den Stadien und am Fernsehschirm. Und dass beim Sport, das ist diesem Feld immanent, am Anfang immer offen ist, wer gewinnt. Aber Favoritensiege (ob nun von Marion Jones oder Ian Thorpe) haben immer eher gelangweilt, das war auch bei Olympischen Spielen nie anders, der US-Sprinter Carl Lewis, der zwischen 1984 und 1996 Goldmedaillen sammeln konnte, weiß davon traurig zu berichten. Deshalb kommen die Quoten zustande, auch des Nachts wie in Atlanta oder demnächst in Sydney.

Ob Sydney also wunderbar wird? Wahrscheinlich. Außenseiter werden Stars. Oder Stars zu Nobodys. Männer und Frauen, deren Glück (oder Unglück) mitfühlbar wird, die alles gegeben haben werden, ohne sich einen Deut um den Medaillenspiegel und um die Platzierung ihrer Nation zu scheren. Wir sind wie immer gespannt.

JAN FEDDERSEN, 43, taz.mag-Redakteur ohne eigene sportliche Ambitionen, genießt Olympische Spiele seit jenen von 1972 in München

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