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Archiv-Artikel

„Für eine Zeit in einem anderen Leben“

Der politische Moment des Kinobesuchs: Ein Gespräch mit Alexander Horwath über die Rezeption des Films in der Kunstwelt und sein Programm für die documenta 12

INTERVIEW BRIGITTE WERNEBURG

taz: Bei der documenta 12 sind die Ausstellungsorte immer wieder Anlass der Diskussion. Daher ganz direkt gefragt, wo wird das Kinoprogramm stattfinden?

Alexander Horwath: Der Film bei der documenta 12 wird im Kino stattfinden. Es geht, das war von Anfang an klar, um einen Ort mit spezifischen Bedingungen, die dem Medium angemessen sind. Nach den Erfahrungen mit den Laufbild-Arrangements unterschiedlichster Art in den letzten zehn, fünfzehn Jahren, besteht der explizite Wunsch, das Kino als Ort des Films wieder zu stärken – aber natürlich nur für jene Werke, die einer Logik des festgelegten Ablaufs folgen, die eine Dauer haben, einen Anfang und ein Ende. Der konkrete Ort ist das Gloria-Kino in Kassel, das 1955 eröffnet wurde, im selben Jahr wie die erste Documenta.

Sie beobachten also eine Entwicklung, die eine solche dezidierte Verankerung des Films im Kino herausfordert?

Wenn ich Rückschau halte, wie die documenta von Beginn an mit Film gearbeitet hat, kommt es mir vor, dass der Film sehr oft „eng geführt“, d. h. jeweils nur mit einem kleinen Ausschnitt seiner Möglichkeiten gezeigt wurde. Zu Beginn war das einerseits die Perspektive des Nachholens, was ja nicht falsch war, Anfang der 50er-Jahre in Deutschland. Man zeigte internationale Klassiker, die noch nicht bekannt waren. Andererseits brachte man „Künstlerfilme“ – Porträts des Künstlers, seltener der Künstlerin, bei der Arbeit.

Anfang der 70er-Jahre lag der Fokus auf dem experimentellen und Avantgardefilm. Allerdings nicht im Zusammenhang mit einer größeren Idee von Filmgeschichte, sondern als spezifischer Typus von Film, den man abtrennen und für die Kunst reklamieren konnte. Wieder 20 Jahre später war Film auf der documenta als eine Art Sommerkino vertreten, mit populären Arthouse-Filmen. Bei der letzten documenta wiederum gab es zwar ein separates Filmprogramm, aber weil die Ausstellung selbst so viel Laufbild zeigte, war in der Wahrnehmung plötzlich alles eins, und nichts war mehr Film.

Was heißt das konkret?

Das meint, dass Ausstellungen nicht nur bewusste Filminstallationen, sondern sehr oft „normale Filme“ zeigen, aber unter völlig unzureichenden Bedingungen. Zum Beispiel der Umgang mit dem Ton. Bevor der Film in der Kunstausstellung Einzug hielt, hat der Ton dort eine ganz andere Rolle gespielt. Das Problem, dass der Picasso lauter schreit als der Matisse, der im selben Raum hängt, gab es nicht; und dass ich mich daher nicht mehr auf den Matisse konzentrieren kann. Das verstehen die Kuratoren erst sehr langsam, finde ich: Was es bedeutet, verschiedene Laufbildarbeiten mit Ton und mit einer präzisen Dauer zu zeigen; was passiert, wenn die Sounds nicht gegeneinander abgedichtet sind. Ich finde es legitim, sie nicht abzudichten. Aber dann muss man die Konsequenzen für die einzelnen Werke und für die Besucher mitbedenken.

Wenn Sie sagen, der Ort des Film auf der documenta ist das Kino, wollen Sie damit wieder Ruhe und Konzentration in die Filmrezeption hineintragen?

In der Ausstellung hat der Besucher die Freiheit des beliebigen Verweilens, auch vor den Film- und Videoinstallationen, ganz nach seinem Gusto. Dieses flaneurhafte Moment der Rezeption wird in der Kunstwelt gerne als eine Befreiung vom Zwang des Kinos zu einem vermeintlich passiven Konsum gefeiert; aus dieser Sicht erscheint der Filmbetrachter gerne als ein Opfer der Institution Kino. Aber das ist Unsinn. Für mich ist diese „neue Freiheit“ ein bisschen verwandt mit der Freiheit des neoliberalen Freiberuflertums gegenüber dem fordistischen Arbeiter, es handelt sich um eine sehr problematische Freiheit. Ich weiß nicht, was daran frei sein soll, wenn Werke, die einer bestimmten zeitlichen Entwicklung folgen, nur mehr sehr tangential und ausschnitthaft gesehen werden. Wir wollen daher die spezifische Dauer, den Akt, die „Performance“ der Filmvorführung selbst betonen.

Was ist der Gewinn dabei?

Die Intensität der Begegnung ist eine Chance, die das Kino bietet, und dort liegt auch das politische Moment des Kinobesuchs. Das Kino ist ein Schwellenort, an dem ich scheinbar für eine Zeit in einem anderen Leben bin, aber ich bin auch in Gesellschaft und an der Schnittstelle mit diesen anderen – und meinem eigenen – Leben. Das Kino hat genügend Anteile der Außenwelt. Wenn ich es verlasse, bin ich sofort in der Zone des wirklichen Lebens, des Alltags. Darum ist es ja auch als städtisches Medium so erfolgreich geworden. Natürlich ist das Konzerthaus und das Konzert als Aufführungsmodus ebenfalls ein solches Dispositiv, aber es ist in Bezug auf Habitus und Status ganz anders strukturiert als das Kino. In ihrer ganzen medialen und ökonomischen Entwicklung hat sich die Gesellschaft, z. B. mit Fernsehen oder Internet, von „alltäglich-intensiven“ Begegnungen schlicht entfernt. Ich halte es für einen politischen Akt, diese Intensität öffentlicher Situationen wieder zu betonen .

In der multimedialen Praxis, die eine akustisch und zeitlich besonders geschützte Aufführung mit entsprechend hochwertiger technischer Ausstattung nicht kennt, gehen also wesentliche Dimensionen des Kinos verloren?

Ja, die spezifischen Qualitäten von Filmen und auch die Zusammenhänge zwischen ihnen erschließen sich im Nacheinander und nicht im Nebeneinander. Wenn in einem Programm zunächst ein Film läuft, der ganz bewusst, womöglich sogar aggressiv mit Ton arbeitet, und dann folgt ein Film, der still ist, dann kann man diese eigene Qualität der Stille wahrnehmen. Kurt Krens „Tree Again“ etwa: ein Baum in Vermont, 3 Minuten Film, gedreht in Einzelbildern über 50 Tage hinweg, kein Ton. Das kann dich als Betrachter erfassen, wie du es anderswo nie erleben wirst. In vielen Kunstausstellungen würde es schwer fallen, überhaupt zu bemerken, dass es sich um ein stumm gestaltetes Kunstwerk handelt, denn es kommen jede Menge andere Töne von anderswoher. Und: dass es sich um ein dreiminütiges Kunstwerk handelt, also um eine Art Zeitkristall, nicht um einen Loop.

Was heißt eigentlich Programm?

Programm meint eine abendfüllende Vorführung. Ein Programm kann dabei aus einem Film bestehen, der 70 bis 120 oder auch mal 255 Minuten dauert wie bei Robert Kramer. Es kann aber auch aus sechs kürzeren Filmen bestehen. Es sind insgesamt 50 Programme, die im Lauf der hundert Tage der documenta je zweimal gezeigt werden. Insgesamt werden das 96 einzelne Filme sein. Natürlich wird niemand alle diese 96 Filme sehen. Auch das markiert eine Trennlinie zur Kunst. In drei Tagen documenta kann man wahrscheinlich alle Ausstellungsstücke sehen.

Auf welcher Grundlage haben Sie diese 50 Programme entwickelt?

Meine erste Frage an Roger Buergel und Ruth Noack (Leiter der documenta 12) war, ob sie einverstanden wären, dass ich nicht nur neueste Filme aus den letzten Jahren, sondern einen Bogen zeige, der weiter zurückreicht – da sie schon jemanden wie mich gefragt haben, der ein Filmmuseum leitet … Das haben sie absolut bejaht. Ich habe dann vorgeschlagen, einen Zeitraum zu wählen, der mit der Geschichte der documenta zusammenfällt. Das ist vielleicht ein etwas koketter Gedanke, aber die frühesten Filme von 1952, 1953 und 1954, die ich ausgewählt habe, hätten schon auf der ersten documenta laufen können. Ein Film wie „Viaggio in Italia“ (1954) von Roberto Rossellini, aber auch ein Film wie „In the Street“ (1944–52) von Helen Levitt, die erst viel später als eigenständige Künstlerin sichtbar wurde, mit ihrer großartigen Straßenfotografie, und die eben auch diesen wunderschönen Kurzfilm gemacht hat.

Es geht also um diesen Zeitraum von etwas mehr als fünfzig Jahren, um die „zweite Hälfte des Kinos“. Und damit um das moderne Kino, den historischen Moment nach dem Zweiten Weltkrieg, an dem sich dieses Kino seiner selbst und seiner Geschichtlichkeit bewusst wird und so zu agieren beginnt wie der moderne Roman, die moderne Kunst im Allgemeinen. Das Kino macht sich selbst zum Thema. Auch in den dokumentarischen Arbeiten. In all seinen ganz unterschiedlichen Spielarten weigert es sich, einfach nur die Rolle des Illusions- und Ideologieproduzenten zu spielen. Gleichzeitig gibt es seine ursprüngliche Rolle als Entertainment Industry keineswegs auf. In all diesen Bereichen passiert etwas und befruchtet sich gegenseitig. Scorsese wäre ohne das Anschauen von Kenneth Angers „Scorpio Rising“ (1963) und anderer Undergroundfilme nicht der Scorsese, den wir kennen. Die Filmleute arbeiteten ja nicht in abgesonderten Zonen vor sich hin.

Die documenta-Besucher sollen also wie Martin Scorsese alles sehen, vom Avantgardefilm bis zum Blockbuster?

Ja, ich sehe meine Tätigkeit als Vermittler darin, Kino über die üblichen Kategorien hinweg abzubilden. Entweder ist alles Rand, auch der Blockbusterfilm, oder alles ist Zentrum. Letzteres ist der Vorschlag der documenta 12. 1977 gab es übrigens eine documenta, auf der ganz bewusst nicht nur der Künstler- und Avantgardefilm, sondern auch das Spielfilmkino eingeladen war. Da hatte man den Mut, zu sagen, „Nashville“ von Altman gehört auf die documenta. Ebenso interessant war die Idee von Catherine David 1997, sechs oder sieben Filmemachern Mittel zur Verfügung zu stellen, um neue Arbeiten zu machen. Zu sagen, das sollen Kinofilme sein und keine limitierten Editionen-Installationen für die Box, fürs Museum, für Privatsammler, das war ein kuratorischer Akt, den ich bemerkenswert fand. Diese Filme liefen dann auch auf Filmfestivals, etwa in Locarno.

Um Kinogeschichte geht es Ihnen also nicht, sondern darum, den ganzen Horizont aufzuzeigen, der die Kinolandschaft überspannt?

Ich will ein Programm machen, das vom einzelnen Werk ausgeht, von dem ich behaupte, es ist höchstrangig. Trotzdem soll in einem oft radikalen Wechsel von bekannten und unbekannten Filmen ein Zusammenhang deutlich werden, der das moderne Kino einigermaßen differenziert beschreibt. Es gibt sogenannte Klassiker wie Hitchcock, Ford, Rossellini oder Mizoguchi, aber gleichzeitig auch Filmformen und Genealogien, die andere Linien aufmachen: z. B. den einzigen Film einer iranischen Dichterin, 1963 in einer Leprakolonie gedreht, der in Verbindung mit Leslie Thorntons irrwitzigem Lebensprojekt „Peggy and Fred in Hell“ gezeigt wird; oder: David Cronenberg und Stan Brakhage in einem Programm; oder: zwei Minuten Pop-Stakkato namens „Recreation“ aus dem Jahr 1956, von Robert Breer, zusammen mit Peter Kubelka, Guy Debord und William Burroughs; oder: „IXE“, ein lange Zeit verbotener Queer-Punk-Film aus dem Paris von 1980, zusammen mit „Flaming Creatures“ von Jack Smith. Ein gewisser Schwerpunkt – etwa ein Drittel der Auswahl – liegt auf dem Kino der letzten zehn Jahre. Und es gibt ein paar Uraufführungen, z. B. von Robert Beavers und James Benning. Mit Bennings wunderbarem Film über Robert Smithsons berühmte „Spiral Jetty“ im Salzsee von Utah endet das Programm.

Sie legen es also auf eine Provokation des Kunstbetriebs an?

Nein. Aber das Thema, wie sich Museum, Galerie, Kunstmarkt und filmisches Arbeiten bzw. Filmgeschichte zueinander verhalten, wird uns noch lange beschäftigen. In den allermeisten Fällen sind Filme nicht übertragbar, jedenfalls nicht ohne massive Verluste, weder auf die Computererfahrung noch auf die skulpturale Erfahrung – also auf Objekte, um die ich herumschlendere. Aber es gibt natürlich diverse Werke, die genauso konzipiert sind und auch so „funktionieren“. Ein Hauptunterschied bleibt immer bestehen: dass Filme zur Verbreitung, zur Multiplikation bestimmt sind, und Film-im-Kunstbetrieb dazu tendiert, ent-öffentlicht zu werden, auf Editionen verknappt, die dann von Käufern in den privaten Bereich überführt werden. Im Kino kann ich den Film nicht vom Markt wegkaufen, ich kann nur die zwei Stunden Zeit „mieten“, die ich mit ihm teile …