: Für eine Hand voll Takte
Das von Michael Boder dirigierte Orchester strahlt sensationell satt und klar, beansprucht nicht übertrieben viel Geltung und fordert trotzdem mit seiner kraftvollen Sprache den Sängern und Sängerinnen Höchstleistungen ab: Strauss' „Elektra“ unter der Regie von Harry Kupfer in der Komischen Oper
von BJÖRN GOTTSTEIN
Gegen den Strauss der „Elektra“ ist selbst der größenwahnsinnige Richard Wagner ein Zwerg. Die fahlen, bodenlosen Klänge stampfen aus dem Graben, in dem sich das mit 115 Musikern überdimensional besetzte Orchester durch die klangwütige Partitur rauft.
Am Abend der Premiere strahlte das Orchester der Komischen Oper sensationell satt und klar. Michael Boder führte das farbenwillige Orchester über zwei Stunden unter den Sängern her und beanspruchte Geltung nur dort, wo ihm die Partitur Luft zum Atmen gewährte. Wenige Augenblicke vor dem Ende etwa, als Orest zum zweiten Mord schreitet, der seinem Stiefvater Aegisth gilt. Die Streicher knirschen schonungslos und im mehrfachen Forte auf einem allerhöchsten Ton, dessen unwahrscheinliches Register jedoch einen echten dynamischen Höhepunkt verhindert und dessen Klang stattdessen in Angst zerläuft. Mit „Elektra“ hat – ausgerechnet – Richard Strauss 1909 als erster die entscheidende, letzte Schwelle zur Moderne übertreten. Eine derart kraftvolle Sprache fordert natürlich auch die Sänger zu Höchstleistungen. Da versteht es sich, dass man die Partie der verstörten, auf nichts als Rache sinnenden Elektra nicht mit einem gellenden Gala-Sopran besetzt. Mit Isoldé Elchlepp hat man eine Sängerin gefunden, die sich spielend zwischen den Registern, zwischen gesprochenen und gesungenen Partien bewegt.
Doch insgesamt bleibt Elchlepps Gesang in der Anstrengung stecken. Die Töne geraten plan, konturlos und sind auch nicht immer sauber intoniert. So muss sich Elektra vor ihrer Verwandtschaft ersten Grades zumindest stimmtechnisch geschlagen geben. Vor einem bassig mahlenden Orest (Andrzej Dobber), vor der wild auffahrenden Mutter, Klytemnestra (Ute Trekel-Burckhardt), und mehr noch vor der – in ihrer schwelgerischen Sinnlichkeit allerdings auch äußerst dankbaren – Partie der Chrysothemis (Eva-Maria Westbroek), deren Superpräsenz an diesem Abend alles übertönt.
In der zur Versöhnung bereiten Figur der Chrysothemis schlummert darüber hinaus das geringe Identifikationspotenzial, das Hugo von Hofmannsthal dem finsteren Mythos noch abgewinnt. Ausgerechnet in ihrer naiven Sentimentalität muss das Publikum den möglichen Ausweg aus der Tragödie erkennen, der freilich ohne Chance bleibt. Die übrigen Akteure hantieren nur noch hilflos und verzweifelt mit dem Trümmerhaufen, den der Mord an Elektras Vater hinterlassen hat. Das Bühnenbild, in schwarze Kunststoffbahnen gehüllt, grundiert die Handlung mit einem düsteren Bild, das an die Apokalypse der Mad-Max-Filme erinnert. Eine überdimensionale Hand, hohl, wie aus einer Statue herausgebrochen und mit einem Stab im Griff, füllt als einziges Objekt die Szene als Zeichen eines zerstörten Freiheitstraumes oder als Relikt der zerschlagenen Macht. Hier lebt Elektra, ausgestoßen und verwildert. Von hier aus und wie aus der Ferne beobachtet sie mit dem Publikum das feierliche Huschen der grotesk bis affig überzeichneten, frackgeschniegelten Hofgesellschaft, bis hierher tönen die Schreie des grausamen Muttermordes. Regisseur Harry Kupfer hat die Perspektive also recht gewählt und die erdrückende Stimmung im Bild getroffen.
Dennoch ist die Inszenierung nicht ohne Makel. Zwar klettern die Sänger mutig durch die Falten und Kerben der monströsen Hand. Aber es mangelt insgesamt an bühnentechnischer Beweglichkeit, die man trotz oder gerade wegen der handlungsstarren Momentaufnahme der „Elektra“ wünscht.
Am 25. 1. und am 30. 1., ab 18 Uhr, Komische Oper, Unter den Linden
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