: Für die Auflösung hierarchischer Strukturen
■ betr.: "Wider den Populismus" von Antje Vollmer, taz vom 21.5.92
Betr: „Wider den Populismus“ von Antje Vollmer,
taz vom 21.5.92
Politik- und Parteienverdrossenheit und mangelnde Lust auf Politik sind Schlagwörter, die in letzter Zeit vermehrt durch die Medien grassieren und das Phänomen des Nichtwählens erklären sollen. So meint zum Beispiel Antje Vollmer (Die Grünen), daß, wenn Parteien scharf gegen den populistischen Wind segeln und wieder politisch würden, die Menschen vielleicht wieder Lust auf Politik bekämen. Ditmar Staffelt (SPD) stellt sich „Kiezversammlungen“ vor, um etwas gegen Politikverdrossenheit zu erreichen. ('Berliner Zeitung‘ vom 9.6.92)
Diese mageren Erklärungsversuche, die außer der Feststellung einer prinzipiellen Unlust auf Politik nichts Wesentliches enthalten, greifen zu kurz.
Nichtwählen drückt Protest gegenüber den sich zur Wahl stellenden Parteien aus. Zum einen, weil mann/ frau sich nicht durch die etablierten Parteien vertreten fühlt, zum anderen, weil sich mann/frau nicht länger als Stimmesel mißbrauchen lassen will. Daß Versprechungen, die vor einer Wahl abgegeben wurden, nach der Wahl schlicht gebrochen werden, ist seit langem bekannt, bleibt nichtsdestotrotz aber verwerflich.
Den unverschämtesten Mißbrauch des Wählerwillens startete der Regierende Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen, gleich nach Bekanntwerden der Ergebnisse der Bezirkswahlen. Sein Vorschlag an die SPD, doch auch auf Bezirksebene zusammenzuarbeiten, um sich dort gegenseitig in die Bürgermeistersessel zu hieven. Da haben sich Tausende von BürgerInnen bewußt gegen die CDU entschieden, sie mittels der Ignoranz bei der Stimmabgabe praktisch aufgefordert, sich aus der Bezirkspolitik herauszuhalten, um sie nun eventuell doch noch vor die Nase gesetzt zu bekommen.
Aber so ist und war es schon immer in der Politik. Wer wählt, muß damit rechnen, daß seine Stimme ignoriert oder uminterpretiert wird. Der ursprüngliche Entschluß für eine Stimmabgabe spielt, kaum sind die Stimmen im Sack, keine Rolle mehr. Es muß daher eine Auflösung der hierarchischen Strukturen, sowohl innerhalb der Parteien als auch in der Politik insgesamt, erreicht werden. Es kann und darf nicht sein, daß mann/frau erst in einer Partei und ganz oben sein muß, um etwas politisch bewegen zu können. Mehr Mitbestimmung, Mitgestaltung und mehr Kontrolle durch das Volk sind grundsätzliche Forderungen. Mehr Bürgerbewegungen statt hierarchisch organisierte, verkrustete und starre Parteien. Nichtwählen ist daher Ausdruck klarer politischer Zielsetzungen und hat nichts mit Politikverdrossenheit zu tun. Eher mit Verdrossenheit, Politik nach dem althergebrachten Muster zu machen. Selbstverständlich hat Nichtwählen nur im Zusammenhang mit einer noch herzustellenden Aufklärung über Beweggründe und den daraus resultierenden Forderungen in der Öffentlichkeit Sinn. Ein erster Schritt sei hiermit getan. Andreas Pfaab, West-Berlin
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