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■ Für 1998 braucht die SPD einen starken Kanzler- kandidaten und geschwächte Funktionäre. Und ein PlebiszitFragt die Mitglieder, Genossen

Ja, ich weiß. Mein Vorschlag ist ganz und gar unrealistisch, ja unpolitisch, eben biedenköpfisch-akademisch. Und die SPD will davon auch nichts hören. Dennoch: Die SPD sollte ihre Mitglieder über den Kanzlerkandidaten entscheiden lassen.

Zwingend ist dies auch für Oskar Lafontaine. Natürlich, Lafontaine will Revanche für die Schmach von 1990. Aber nicht nur das. Er will auch noch eine Mission erfüllen und die gesellschaftlichen Ströme, die 1968 ihren Anfang nahmen, endlich an die politische Macht bringen. Er weiß – ganz ähnlich wie Joschka Fischer –, daß 1998 die letzte Chance ist, die Lebensgeschichte seiner Generation erfolgreich abzuschließen. Und diese Lebensgeschichte übersetzt Lafontaine mit westlicher Zivilisation, Aufklärung, Diskurs. Lafontaine ist Geschöpf und Akteur jener Partizipationsrevolution, die in sozialliberalen Zeiten begann, die sich in den 80ern gesellschaftlich durchsetzte, die aber bislang nicht ins Kanzleramt dringen konnte.

Doch der Kampf ums Kanzleramt wird von der Partizipationsgeneration merkwürdigerweise keineswegs mit partizipatorischen Mitteln geführt. Damit aber büßt der angestrebte Machtwechsel seine sinnfällige Symbolik ein. In der Union bestimmte der Kanzlerpatriarch aus dem Urlaubsdomizil in einsamer Machtfülle, daß er sein eigener Nachfolger werden will. Niemand hat anderes von den darin in der Tat konservativen Christdemokraten erwartet. Aber bei der SPD, deren Erweckungserlebnis ganz überwiegend im Demokratisierungspathos von Willy Brandt liegt, ist es keinen Deut anders. Hier harren ebenfalls alle in unterwürfiger Haltung auf das klärende Wort von Lafontaine, der seinerzeit von nervlich angeschlagenen Delegierten nach einer peinlich banalen Schreirede gewählt wurde, der also mit einer denkbar schmalen und anrüchigen Legitimation ausgestattet ist.

Es ist grotesk. Die Gesellschaft hat sich in den letzten 25 Jahren in partizipatorischer Richtung fundamental verändert. Unternehmen und Verwaltungen arbeiten an flachen Hierarchien und fördern Teamarbeit. Die Deutschen sind überwiegend gut informierte Menschen und geübte Mitbestimmer in Mitarbeiterversammlungen, auf Elternabenden, bei TED-Umfragen, in Bürgergesprächen. Und die SPD beansprucht gerne und gar nicht mal zu Unrecht, daß sie dazu seit 1969 einiges beigetragen hat.

Aber der SPD-Kandidat, der 1998 diesen sozial-kulturellen Wandel in politische Macht umsetzen soll, wird der Partei von ganz oben, ohne Meinungs- und Willensbildung, aufgedrückt. Der Vorsitzende hat den ersten Zugriff, klang es monoton und subaltern. Das Fußvolk darf warten und orakeln, was wohl im Kopf des sprunghaften Zauderers an der Spitze der Partei vorgehen mag. Will er selbst noch einmal in den Ring steigen, oder überläßt er die Arena dem ehrgeizigen Schröder? Statt Partizipation und Aufklärung – Oktroy und Gefolgschaft. Das Land steht im Übergang zum 21. Jahrhundert, aber die Auswahl politischer Führer vollzieht sich noch nach dem honoratiorenhaften Delegationsmodell des 19. Jahrhunderts. Irgend etwas läuft im bundesdeutschen Parteienwesen falsch.

Vor allem: In den frühen 90er Jahren war die SPD schon einmal weiter. Damals hatten sich einige kluge Köpfe der Partei Gedanken gemacht, wie man die alte sozialdemokratische Traditionskompanie durchlüften kann. Das Ganze lief unter dem Etikett der Organisationsreform und wurde 1993 vom Parteitag abgesegnet. Kernstück: die Mitgliederbefragung – insbesondere bei der Wahl des Kanzlerkandidaten. Aber es war wie so häufig in der SPD. Die Reform wurde verabschiedet – und landete im Archiv. Schließlich waren die Aktivisten der Partei sowieso keine Freunde von der Demokratisierung, denn das drohte ihre exklusive Stellung zu untergraben.

„O nein, o nein!“, höre ich schon die SPD-Funktionäre rufen. Man habe doch Erfahrungen mit dem Mitgliederplebiszit gemacht. Bei der Wahl von Scharping. Und dieses Experiment sei ja wohl unzweifelhaft in die Hose gegangen.

Aber das Beispiel taugt nichts. Beim Scharping-Plebiszit fehlte der entscheidende zweite Wahlgang und damit die eindeutige Mitgliedermehrheit für den neuen ersten Vorsitzenden. Scharping konnte nur 40 Prozent vorweisen. Wäre er mit eindeutigem politischem Programm von über 50 Prozent gewählt worden, er hätte Schröder mit einer ganz anderen Autorität in die Schranken weisen können. Vor allem wäre ihm die Abhängigkeit von Lafontaine erspart geblieben, der ihn später still demontierte und am Ende absägte.

Doch all das wird, ich weiß, die Kritiker von Mitgliederbefragungen keineswegs überzeugen. „Die Medien“, werden sie rufen, „die Medien.“ Bei Plebisziten gewinne der Liebling der Medien, während die Partei und ihre Gremien ausgeschaltet werden. Doch die Entwicklung läuft inzwischen in eine ganz andere Richtung. Die Kandidatenfrage der SPD ist nun seit Wochen schon nur noch eine Angelegenheit der Medien. Erst ein Plebiszit könnte die Diskussion wieder dorthin bringen, wo sie zunächst einmal hingehört: in die Partei, deren Mitglieder über jenen Kandidaten entscheiden sollten, den sie im Wahlkampf und vielleicht als Kanzler unterstützen müssen. Ein SPD-Kanzlerkandidat ohne einen solchen Rückhalt wäre dem Parteikanzler Helmut Kohl hoffnungslos unterlegen. Insbesondere wenn es denn auf Gerhard Schröder zulaufen sollte, wofür inzwischen ja einiges zu sprechen scheint. Aber hier bahnt sich eine dramatische Fehlentwicklung an. Die mittleren und führenden Parteieliten in der SPD sind ganz überwiegend Schröders Feinde. Einige hassen ihn regelrecht. Die Autorität, die Scharping fehlte, könnte sich Schröder nur über eine Mitgliederbefragung verschaffen. Er muß auch die Macht der alten Parteieliten zurückdrängen, sonst hat er keine Chance. Er muß, will er Kanzler werden, die Wahlkampftruppen selbst anführen, nicht der Vorsitzende. Er muß die politischen Konturen zeichnen und vorgeben, nicht die Abgeordneten Scheer, Müller oder Dreßler. Er muß das Personal für die Wahlkampfzentrale auswählen, nicht der Bundesgeschäftsführer. Schröder muß wegkommen von der sozialdemokratischen Inzucht des Siebziger-Jahre-Reformismus im Funktionärskörper. Das kann er nur, wenn er die Parteibasis plebiszitär für sich mobilisiert.

Dafür ist es zugegebenermaßen schon zu spät. Und es ist wohl auch mehr eine Langzeitaufgabe. Doch es ist der Weg, wie aus Old Labour New Labour wurde. Exakt so. Franz Walter

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