■ Fünfzig Jahre chinesische Volksrepublik: Welche Rolle wird die chinesische Kommunistische Partei zukünftig spielen?: Der lange Abschied
Am Anfang stand die Wut. Was von Chinas Kommunisten nach dem Verrat ihres einstigen Verbündeten, des Nationalisten Tschiang Kai-Tschek, übrig geblieben war, versammelte sich 1927 im Süden des Landes und begann unter Führung Mao Tse-tungs den agrarrevolutionären Aufstand. Eigentlich war das eine zweite Parteigründung, und der Mythos, der ihr entsprang, prägte das Bewusstsein der chinesischen Kommunisten. Lang andauernder bewaffneter Kampf, gestützt auf die armen Bauern, ein hartes, einfaches Leben. Als der Aufstand sich zum Volkskrieg gegen die japanische Aggression ausweitete, trat zum agrarrevolutionären das antikoloniale Motiv. Beidem verlieh Mao Ausdruck, als er vor 50 Jahren von der Tribüne am Tiananmen herab erklärte: „Das Volk Chinas ist aufgestanden!“
Wie lange lässt sich der Enthusiasmus im Getriebe des Alltagslebens konservieren, wie kann den folgenden Generationen die revolutionäre Leidenschaft vererbt werden? Was Thomas Jefferson nur anzudeuten gewagt hatte, das Recht jeder Generation auf Revolution, setzte Mao in die Tat um. Die von ihm initiierte Kulturrevolution zerschlug die erstarrten Parteistrukturen aller Ebenen, setzte aber nichts an deren Stelle. Die antiautoritäre Revolte wurde von der Superautorität gemanagt, im Fraktionskampf manipuliert. An ihrem Ende stand eine verlorene Generation, die der Roten Garden, eine zerrüttete Ökonomie und eine tief gedemütigte, von Aufruhr und anarchischer Gewalt traumatisierte Schicht von Funktionären. Dann kam Deng Xiaoping und richtete die Verzagten wieder auf. Effizienz und Modernisierung traten an die Stelle des radikalen „zweifachen Brechens“ mit den bürgerlichen Produktionsverhältnissen und deren kulturellem Überbau. Und statt des Ideals des kollektiven Egalitarismus hieß es jetzt „Bereichert euch“.
Dengs Aufbauprogramm erwies sich zunächst als vorzügliches Instrument der sozialen Integration. Er gab der Intelligenz, die sich während der Kulturrevolution als „stinkende Nummer 9“ am untersten Ende der sozialen Wertschätzungsskala befunden hatte, wieder Arbeit und eine patriotische Aufgabe. Indem er die Volkskommunen auflöste und den Bauern weitgehende Verfügungsgewalt über den Boden gab, löste er eine Explosion der landwirtschaftlichen Produktion aus. Schließlich beförderte er das Wachstum privater Unternehmen, die sich zum dynamischen Sektor der chinesischen Wirtschaft entwickelten.
Unterhalb der allgemeinen Zustimmung zu Dengs Reformprogramm schwelten allerdings zwei ungelöste Probleme: Welche Ziele sollten Chinas Kommunisten langfristig verfolgen, und wo sollte ihr Platz in der chinesischen Gesellschaft sein? Die erste Frage war leicht zu beantworten. Der Aufbau des Sozialismus wurde auf einer Zeitskala von hundert Jahren langgestreckt. Da es immer noch gelte, Grundlagen zu legen, sei das Privateigentum an Produktionsmitteln vertretbar, vorausgesetzt, der staatliche Sektor dominiere weiter. Das gelte auch dann, wenn die Staatsbetriebe, in Aktiengesellschaften umgewandelt und anschließend saniert, den Gang an die Börse wagen würden. Ihr nicht kapitalistischer Charakter sei durch „öffentliche“ Kontrolle gewährt, die vom Staat als Anteilseigner ausgeübt werde. Zudem seien die Grundlinien der ökonomischen Entwicklung durch die Zentrale vorgegeben. Erst wenn die „Springquellen des Reichtums“ sprudelten, seien weitere Schritte der „Vergesellschaftung“ sinnvoll. Sonst ginge es nur um die Sozialisierung der Armut.
Ein langfristiges Programm, but on the long run we all are dead. Das Ethos der Kommunisten hatte sich von der Vorstellung „arm, aber gleich“ genährt und fand in gemeinschaftlichen Einrichtungen nicht nur Sicherheit, sondern auch auch einen Vorgriff in die kommunistische Zukunft. Jetzt sollten sich die Kommunisten in einer aufs individuelle Fortkommen getrimmten Gesellschaft bewähren und dennoch „festhalten“. Festhalten an den „vier Grundprinzipien“, d. h. an der führenden Rolle der Partei und ihrer Theorie des kommunistischen „Endziels“.
Ein möglicher Ausweg hätte in der allmählichen Trennung von Partei- und Staatsfunktionen bestanden, einem Pluralismus, der unterschiedlichen Interessen eine Stimme gegeben hätte und damit auch der Auseinandersetzung unterschiedlicher Ideen und politischer Programme. Ein Spiel mit ungewissem Ausgang, aber die einzige Möglichkeit, der kommunistischen Ideologie einen Entwicklungsraum zu eröffnen, die Chance eines zweiten Lebens jenseits der bloßen Staatsverwaltung. Mit dem Massaker des Juni 1989 wurde auch diese Möglichkeit niedergeschlagen.
Heute ist die Partei auf ein bloßes Instrument der Machtausübung reduziert. Aber an die Stelle des strengen, dafür berechenbaren Leviathan tritt ein vielköpfiges Ungeheuer. Die Partei wird „interklassistisch“, neben dem (selten gewordenen) Funktionär mit bäuerlichem oder proletarischem Hintergrund sitzt der technokratisch ausgerichtete Manager – und der frisch gebackene Unternehmer.
Die verschiedenen Interessengruppen verfügen über keine institutionellen Möglichkeiten, sich in einem rationalen, das heißt aber auch öffentlichen Prozess auseinanderzusetzen und zu gemeinsamen Kompromissen zu finden. Unter solchen Bedingungen wuchern die Seilschaften, die Beziehungsgeflechte. Tüchtige Parteifunktionäre tauschen politischen Einfluss gegen materielle Bereicherung, die Korruption wird endemisch. Unterhalb der offiziellen Linie der „sozialistischen Marktwirtschaft“ blüht die Clanwirtschaft, ein unproduktives Unternehmen, das darauf beruht, sich einen möglichst großen Batzen Staatsgelder unter den Nagel zu reißen. Daran zerbrechen sämtliche Antikorruptionskampagnen.
Die chinesische Parteiführung gebietet heute über 58 Millionen Mitglieder, womit ihr Organisationsgrad bei fünf Prozent der Bevölkerung liegt. (In den osteuropäischen realsozialistischen Ländern waren es doppelt so viel). Das Wachstum der Partei während der letzten zehn Jahre verschleiert allerdings, dass sich das Gros der Mitglieder in den großen Städten konzentriert, während in den Dörfern mit den Veteranen oft die letzten Genossen wegsterben. Wo aber Parteiorganisationen auf dem Land florieren, sind sie häufig die Beute dörflicher Sippschaften, wo sie nicht von Geheimgesellschaften des traditionellen chinesischen Zuschnitts übernommen werden. Auch in den großen Städten ist das Parteileben an der Basis fast erloschen. Sitzungen auf Ebene der Brigaden finden oft nur bei Wahlen statt, alle wichtigen Entscheidungen triffft die Leitungsebene, das Parteikomitee des Betriebs.
Paradoxerweise findet dieser Auszehrungsprozess zu einem Zeitpunkt statt, zu dem große Teile der chinesischen Arbeiterklasse wirklich einer politischen Interesenvertretung bedürften. In den neuen privaten Unternehmungen sind selbst elementare Arbeiterrechte unbekannt. In den Staatsbetrieben aber, wo mit der Sanierung Massenentlassungen Hand in Hand gehen, können die Beschäftigten sich nur auf das Beharrungsvermögen des jeweiligen Managements verlassen. Die Gewerkschaften, die seit 1994 Stimmrecht bei betrieblichen Entscheidungen haben, verfügen über keinerlei Kampfinstrumente, damit aber auch über keinerlei Rückhalt bei den Arbeitern. Vollständig rechtlos aber sind die Massen „freigesetzter“ Bauern, die illegal in die Sonderzonen und die Industriezentren des Südens einsickern, um ihren Lebensunterhalt als Tagelöhner auf dem Bau zu verdienen. Die Interessen dieser verschiedenen Arbeiterschichten sind unterschiedlich, widersprechen sich auch zum Teil. Lokale, isolierte Streikbewegungen sind auch zukünftig leicht niederzuschlagen. Aber die ständig neuen Versuche, unabhängige Gewerkschaften zu organisieren, zeigen das Gefahrenpotenzial für eine Partei, deren Legitimation einmal darin bestand, für die Interessen der Arbeiter und Bauern einzutreten.
Diese Legitimation schwindet. Man mag die Partei als nützlich fürs individuelle Fortkommen ansehen, man mag ihre Unterdrückungsinstrumente fürchten. Aber man achtet sie nicht mehr. Dieses Kapital hat sie aufgezehrt. Parteien, die sich von vornherein auf die Verwaltung des schlechten Bestehenden beschränken, können mit Legitimationsproblemen leichter fertig werden. Wer aber einmal so weit ausholte und der Zukunft zuliebe so große Opfer abverlangte wie diese KP, der muss das gähnende Legitimationsloch fürchten.
Christian Semler
Hinweis:Die chinesische KP wird ein Legitimationsproblem bekommenOhne Demokratie wird auch die Korruption nicht besiegt werden
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