: Fünf nach zwölf
■ Die Straße ist verloren - aber noch nicht das ganze Land: nach den Morden in Solingen ist die Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft erstes politisches Gebot / Ein Aufruf
Es ist fünf nach zwölf. Nach den jüngsten Morden stehen die Türken in Deutschland kurz davor, ernsthafte Konsequenzen zu ziehen. Angst, Abwehr und nackte Selbstbehauptung beherrschen zunehmend das Handeln. So wie bisher kann es nicht weitergehen.
Die Politiker in Bonn glauben wohl, sie könnten auch diesmal mit leeren Worten, Beileidsgesten und zur Schau getragener Betroffenheit die Trauer, die Wut und Enttäuschung der Menschen besänftigen. Damit unterschätzen sie den Ernst der Lage. Sie sind mit dieser Fehleinschätzung nicht allein. Auch jene türkischen Verbände, die bisher wegen der Zerstrittenheit und der Allüren ihrer Agitatoren das Entstehen einer starken türkischen Stimme in Deutschland verhindert haben, sind dabei, jede Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Was müßte in dieser Stunde, die für ganz Deutschland tragische Konsequenzen haben könnte, getan werden?
Von Bonn wird jetzt ein Signal erwartet. Dieses Signal kann sich nicht in der Forderung nach polizeilichen Ermittlungen und Maßnahmen erschöpfen. Die sind selbstverständlich. Was jetzt not tut, ist die unverzügliche Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft für türkische Bürgerinnen und Bürger, die in Deutschland leben und hier bleiben wollen.
Die Türken können sich ein Leben ohne Selbstbestimmung in Deutschland nicht mehr vorstellen. Die überwiegende Mehrheit von ihnen hat sich für Deutschland entschieden. Sie hat positive Gefühle für dieses Land entwickelt. Sie hat ihren Anteil am wirtschaftlichen Erfolg dieses Landes und trägt heute seine Probleme und Nöte mit. Es ist eine Schande für alle Demokraten in Deutschland, daß sie bisher nichts Entscheidendes unternommen haben, um ihnen dieses selbstverständlichste aller Rechte, nämlich das Bürgerrecht, zu gewähren.
Politiker in Bonn, Ihr habt die Straße schon längst an blutrünstige Brandstifter verloren. Wollt Ihr das Land endgültig an Haß und Gewalt verlieren, wollt Ihr endgültig jenes Ausländerproblem erst schaffen, von dem Ihr seit Jahren redet – so macht weiter wie bisher. Wollt Ihr aber fünf nach zwölf den unheilvollen Lauf der Zeit anhalten, den letzten Zipfel einer Chance für Verständigung ergreifen, so handelt, handelt schnell!
Zafer Senocak, geb. 1961, Schriftsteller, deutscher und türkischer Bürger, seit 23 Jahren in Deutschland
Bülent Tulay, geb. 1961, Unternehmer, türkischer Bürger, seit 15 Jahren in Deutschland
Zafer Toker, geb 1960, Verleger, türkischer Bürger, seit 16 Jahren in Deutschland
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