Lettisches Innenministerium gestürmt: Fünf Tote in Riga
■ Eine Woche nach der Erstürmung des Fernsehgebäudes im litauischen Vilnius haben Spezialeinheiten des sowjetischen Innenministeriums das Innenministerium Lettlands erstürmt: Fünf Menschen wurden getötet, zehn weitere verletzt.
Spezialeinheiten des sowjetischen Innenministeriums haben am Sonntag abend das lettische Innenministerium gestürmt und dabei fünf Menschen getötet: den international renommierten Dokumentarfilmer Andris Slapin, zwei lettische Polizisten und zwei russische Unteroffiziere der lettischen Miliz. Weitere zehn Personen wurden verletzt. Erst nach sechsstündiger Besetzung räumten die maskierten Soldaten das Gebäude im Zentrum von Riga. Der sowjetische Innenminister Boris Pugo verurteilte den militärischen Angriff. Der lettische Außenminister Janis Jurkans, der sich am Sonntag in Stockholm aufhielt, sprach von einem „Militärputsch“. Der russische Präsident Boris Jelzin warf Staatschef Gorbatschow vor, in der Sowjetunion ein neues totalitäres Regime errichten zu wollen.
Als Reaktion auf die Erstürmung des Innenministeriums hat das lettische Parlament in der Nacht zum Montag die Aufstellung einer Selbstverteidigungstruppe beschlossen. Die wehrfähigen jungen Letten wurden aufgerufen, sich der Einheit anzuschließen. Wie ein Sprecher des Parlaments mitteilte, wird die Truppe dem Innenministerium in Riga unterstellt. Zudem beschloß das Parlament gestern, das Plebiszit über den künftigen Status der Republik auf den 9. Februar vorzuziehen.
Während der Himmel von roter und weißer Leuchtspurmunition erhellt wurde, begann am Sonntag abend um 20.06 Uhr eine heftige Schießerei. Offenbar erwiderten lettische Milizsoldaten das Feuer der mit automatischen Waffen ausgestatteten „Schwarzen Barette“, der an ihren schwarzen Mützen erkennbaren Sondereinheit des Innenministeriums. Die Leninstraße, eine Hauptverkehrsader der Hauptstadt Lettlands, war von einem Armeelastwagen versperrt. Letten, die das Gebäude des Ministerrats bewacht hatten, liefen zum Ort der Schießerei und beschimpften die maskierten sowjetischen Soldaten. Eine gute halbe Stunde nach der Erstürmung fuhren Krankenwagen und Fahrzeuge der Feuerwehr durch die Stadt, Schüsse fielen danach nur noch sporadisch.
Kurz nach 21.00 Uhr verbreitete der Rundfunksender Riga die Nachricht, das Innenministerium der Republik Lettland werde gegen Angreifer verteidigt. Die Bevölkerung der Hauptstadt wurde aufgefordert, in ihren Häusern zu bleiben und sich von den Fenstern fernzuhalten.
Die „Schwarzen Barette“ — etwa 120 Mann in Riga — schlugen zu, als sich der lettische Innenminister Alois Vaznis in Moskau befand, um über ihren Abzug aus Lettland zu verhandeln. Der lettische Präsident Anatolijs Gorbunovs hatte am Freitag in einem Telegramm an Präsident Michail Gorbatschow verlangt, Riga „von diesen Banditen zu befreien“. Der stellvertretende Innenminister Indrikos verschanzte sich während des Angriffs in der vierten Etage. Das Fernsehen berichtete, er habe telefonisch mitgeteilt, die Soldaten versuchten in sein Büro einzudringen. Die Verbindung zu ihm sei dann plötzlich unterbrochen worden. Später wurde von offizieller lettischer Seite mitgeteilt, daß die „Schwarzen Barette“ es aufgegeben hätten, in das Büro des Vize-Innenministers einzudringen. Indrikos verhandle wieder mit den Einheiten.
Nach dem Sturm auf das lettische Innenministerium bot die Straße vor dem fünfgeschossigen Gebäude am Montag morgen ein gespenstisches Bild. Treppe und Pflaster waren von leeren Patronenhülsen und Glasscherben übersät. Das ausgebrannte Wrack eines mit Löschschaum bedeckten Wagens stand am Bürgersteig, ebenso ein verlassener Krankenwagen und ein Polizeijeep. Die Streifen belichteter Filme, die Soldaten offenbar aus Filmkameras herausgerissen hatten, wehten in der winterlichen Morgenbrise. Auch das dem Innenministerium gegenüber gelegene Luxushotel „Redzene“ hatte seinen Teil der Schlacht abbekommen — die Tür lag als Scherbenhaufen auf der Straße.
Ein amerikanischer Tourist, der im Speisesaal im ersten Stock des Hotels beim Abendessen saß, als die Sondertruppe des sowjetischen Innenministeriums mit dem Sturm auf das Ministerium begann, berichtete später, zunächst sei ihm nur aufgefallen, daß die Beleuchtung plötzlich schwächer geworden sei. Auf die Frage, was denn los sei, habe eine Kellnerin lakonisch versetzt „Ach, da draußen findet eine Schlacht statt“. Er sei hochgefahren und in die Eingangshalle gesprintet, berichtete der Mann. Vor der Hoteltür habe er einen Soldaten in Kampfanzug und schwarzem Barett gesehen, der auf das Innenministerium feuerte. Kaum hatte der Amerikaner den Rückzug angetreten, ging die Glastür der Lobby in Scherben, und er hörte Schüsse in der Hotelhalle.
Nachdem er festgestellt hatte, daß das Telefon in seinem Zimmer nicht funktionierte, eilte der verschreckte Tourist in den Keller, wo schon andere Gäste Zuflucht gesucht hatten. Die dort Versammelten hätten wohl Angst gehabt, Panikstimmung habe während der rund zweistündigen Schießerei aber nicht geherrscht, schloß er seinen Bericht.
Ebenfalls im Zentrum des Geschehens hatte sich nach Mitteilung des Abgeordneten Girts Krumins auch der lettische Präsident Anatolijs Gorbunovs befunden. Er dinierte mit einer polnischen Delegation im „Redzene“. Gorbunovs habe nicht die geringste Ahnung gehabt, was eigentlich los sei und zunächst geglaubt, daß die Schüsse etwas mit seiner Anwesenheit in dem Hotel zu tun hätten. Der Präsident und seine Gäste seien unverletzt geblieben, fügte Krumins hinzu.
Schwerbewaffnete lettische Polizei mit kugelsicheren Westen waren seit voriger Woche rund um die Regierungsgebäude in Riga postiert. Der sowjetische Militärkommandant hatte sie vergeblich zur Abgabe ihrer Waffen aufgefordert.
Am Wochenende hatte ein sogenanntes Rettungskomitee verkündet, es habe die Macht übernommen, Parlament und Regierung seien aufgelöst, die Unabhängigkeitserklärung vom Mai vorigen Jahres und alle Folgegesetze seien ungültig, und Präsident Michail Gorbatschow solle das Land direkt der sowjetischen Zentralgewalt unterstellen.
Regierung und Parlament in Riga hatten daraufhin erklärt, sie seien weiter im Amt. Präsident Anatolijs Gorbunovs allerdings sagte eine Auslandsreise ab, die am Dienstag beginnen und ihn nach Schweden, Großbritannien, Frankreich und Deutschland führen sollte. Gorbunovs begründete die Absage mit der Krise im Parlament, das von der nichtlettischen Minderheit aus Protest gegen die Politik der Mehrheit verlassen wurde.
Jelzin spricht von neuem totalitären Regime
Der russische Parlamentspräsident Boris Jelzin hat dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow vorgeworfen, ein neues totalitäres Regime in der UdSSR errichten zu wollen. Zu Beginn einer Sondertagung des Parlaments der Russischen Föderation am Montag in Moskau beschuldigte er die Kreml-Führung, vom verkündeten Aufbau des Rechtsstaates abgegangen zu sein und den Republiken ihren Willen zu diktieren. Unter dem Deckmantel der Korrektur einiger Fehler der jungen Demokratien im Baltikum habe praktisch der Sturz der verfassungsmäßigen Institutionen begonnen. Mit den sogenannten Rettungskomitees in Litauen, Lettland und Estland unterstütze die Sowjetführung jetzt die verfassungsfeindlichen Kräfte.
Die Parlamentstagung war wegen der angespannten Lage in der Sowjetunion vorverlegt worden. Zu Sitzungsbeginn hatten die Abgeordneten mit einer Schweigeminute der Opfer des sowjetischen Militäreinsatzes im Baltikum gedacht. In der Debatte über die Tagesordnung war der Antrag gestellt worden, Gorbatschow zur Parlamentstagung einzuladen, damit er sich für das Vorgehen des Militärs verantworte. Als Oberkommandierender der Streitkräfte könne der UdSSR-Präsident nicht behaupten, vom Einsatz der Armee überrascht worden zu sein, meinte ein Abgeordneter. taz/dpa/ap/afp/adn
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen