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Fünf Jahre in DeutschlandAngekommen in Bayern

Omara Chaar studiert heute in Passau an der Universität, Leen Shaker arbeitet als Zahnärztin in München. Zwei Geflüchtete erzählen.

Erst mittelloser Flüchtling, heute erfolgreicher Student: Omara Chaar in Passau Foto: Patrick Guyton

München/Passau taz | Ende August 2020. Leen Shaker hat Mittagspause und damit Zeit für ein Gespräch in der kieferorthopädischen Zahnarztpraxis im Münchner Stadtteil Nymphenburg. Das Wittelsbacher-Schloss steht unweit der Praxis. „Seit einem Jahr arbeite ich hier“, erzählt die aus Syrien stammende Ärztin. „Ende September habe ich nun meine letzte Prüfung zur Kieferorthopädin.“ Shaker hat mittlerweile den sogenannten unbefristeten Aufenthaltstitel bekommen – sie kann dauerhaft in Deutschland bleiben. Die 33-Jährige strebt nun auch die deutsche Staatsbürgerschaft an. Ihr Chef konnte ihr im überteuerten München ein Apartment vermitteln, ihr Freund studiert in Passau Betriebswirtschaft.

Vor fünf Jahren war Leen Shaker am Passauer Hauptbahnhof von Österreich her in Deutschland angekommen. Mit fast nichts, wie so viele Flüchtlinge in diesen Wochen damals.

In Passau sitzt Omara Chaar zusammen mit Sonja Steiger-Höller draußen im Theatercafé. Es ist ein bekannter Treffpunkt in der Nähe des Inns, das Altstadthaus gehört dem Kabarettisten Ottfried Fischer, der selbst mit seiner Ehefrau dort lebt. „Wie läuft es an der Uni?“, fragt Steiger-Höller. Chaar, 26 Jahre alt, sagt: „Ich habe schon 80 Credit Points.“ 180 braucht er insgesamt, dann erhält er den Bachelor im Fach „Medien und Kommunikation“. Omara Chaar stammt aus dem syrischen Aleppo, auch er hatte vor fünf Jahren die Dreiflüssestadt erreicht. Die Passauerin Sonja Steiger-Höller kümmerte sich damals als Flüchtlingshelferin um ihn: Asylantrag stellen, sich auf das Verfahren vorbereiten. Kleidung besorgen, denn der Syrer war nur mit zwei Plastiktüten angekommen. Und Deutsch lernen. Steiger-Höller und ihre Familie luden Chaar damals zum Essen ein, nahmen ihn mit zum Besuch bei den Eltern. Sie sind Freunde geworden.

Vom mittellosen Flüchtling zum erfolgreichen Studenten

Omara Chaar spricht schnell und auf Deutsch über die verschiedenen Sprachkurse, bis er das Level C1 erreicht hatte und damit den Zugang zur Universität. Er redet von seinem Marketingpraktikum, von den Lehrveranstaltungen zur empirischen Sozialforschung, von strategischer Kommunikation und PR. Wenn er den Lehrinhalten einmal nicht ganz folgen kann, dann gehe er zum Professor und sage ihm: „Ich verstehe nicht, um was es geht.“ Omara Chaar regt Tutorien an, in denen Themen vertieft werden. Sehr geholfen habe ihm das „Refugee Programme“ der Universität, dessen Mitarbeiterin sich genau solche aufgeweckten Studierenden wünschen.

Die erste Begegnung mit Leen Shaker, Omara Chaar und dem Reporter fand vor genau fünf Jahren statt, im September 2015 am Passauer Hauptbahnhof. Der damals 21-jährige Omara Chaar stand an den mit rot-weißem Plastikband abgegrenzten Aufgängen, ein Megafon in der Hand. Die Bundespolizei hatte ihn wegen seiner Arabischkenntnisse engagiert, er selbst war da gerade einmal seit zwei Monaten in Deutschland. Stoßartig kamen die Flüchtlinge aus den Waggons der Züge aus Österreich. Chaar rief immer wieder laut: „Das ist Deutschland, ihr seid in Sicherheit. Ihr braucht keine Angst mehr zu haben, ihr seid hier angekommen. Bitte geht jetzt weiter.“

Jeder zweite Flüchtling hat Arbeit

Die Ankunft Vor fünf Jahren, am 4. September 2015, entschied Bundeskanzlerin Angela Merkel, aus Ungarn kommende Flüchtlinge weiter nach Deutschland reisen zu lassen und nicht die Grenzen zu sperren. Die Asylsuchenden hatten unter teils katastrophalen Umständen auf eine Weiterreise gewartet.

Die Integration Fünf Jahre später sind viele der Geflüchteten auf dem deutschen Arbeitsmarkt integriert. „Rund die Hälfte der Geflüchteten hat nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit von Ende Juli inzwischen einen Job. Davon wiederum arbeitet die Hälfte auf Fachkraftniveau. Allerdings sind Frauen schwieriger zu integrieren, weil sie oft wegen traditioneller Rollenmuster für die Familienarbeit zuständig sind und deswegen noch nicht in ausreichendem Maße an Integrations- und Qualifizierungskursen teilnehmen.

Die Pandemie Die Auswirkungen der Coronapandemie auf den Arbeitsmarkt treffen Geflüchtete härter als andere. Daniel Terzenbach, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, sagte dazu Ende Juli, die Arbeitslosigkeit liege im Juni insgesamt um 22 Prozent höher als im März. Bei Menschen aus Asylherkunftsländern liege sie aber um 26 Prozent höher. „Keine formale Qualifikation und schlechte Sprachkenntnisse - wenn diese beiden Merkmale zusammenkommen, führt das häufiger zum Arbeitsplatzverlust“, erklärte Terzenbach. (taz, dpa)

In seiner Heimat hatte Omara Chaar Jura studiert, war selbst über die Strecke gekommen, auf der nun Hunderttausende folgten: von der Türkei mit dem Schlauchboot nach Griechenland und weiter auf der Balkan-Route. Er ging zu Fuß, musste in einigen Ländern Grenzsoldaten bestechen, wurde mehrfach in Haft gehalten. Ein Mal wäre er fast ertrunken, in Ungarn hatte er sich einige Tage im Wald versteckt.

Passau an der Grenze zu Österreich und Tschechien stand damals im Blickpunkt der Republik, Europas und, ja, der Welt. Die Flüchtlinge kamen nicht mehr wie kurz zuvor am Münchner Hauptbahnhof an. Sie wurden von Österreich umgeleitet, denn die bayerische Landeshauptstadt war vollkommen überlastet. Nun gab es auch in Passau an Spitzentagen 10.000 neue Geflüchtete.

Als Leen Shaker in der 50.000-Einwohner-Stadt deutschen Boden betrat, war sie 28 Jahre alt. In Damaskus hatte sie als Zahnärztin promoviert und für kurze Zeit gearbeitet. Dann beschloss sie, vor dem Krieg zu fliehen. Das Regime von Diktator Assad wütete, die Terrororganisation „Islamischer Staat“ war wegen ihrer Gräueltaten gefürchtet, weitere Milizen involviert. Ursprünglich hatte Shaker gehofft, im Libanon Arbeit zu finden, nicht so weit weg von der alleinstehenden Mutter und der jüngeren Schwester. Doch das war nicht möglich – also nach Deutschland, alleine, dort wo schon ein Bruder und zwei Schwestern lebten. Damals war die Zukunft vollkommen offen, das weitere Leben unsicher.

Gehversuche ein Jahr nach der Flucht

Ein Jahr später, Ende August 2016, saßen Omara Chaar, Leen Shaker und Sonja Steiger-Höller auch im Theatercafé, das Wetter war schön. Die Syrer radebrechten halb auf Englisch und halb auf Deutsch. Chaar musste erkennen, dass er mit syrischen Jura-Kenntnissen in Deutschland nichts anfangen konnte. Sein Ziel war es nun, an der Universität zu studieren, irgendetwas in Richtung Medien und Journalismus. „Er ist immer so optimistisch“, sagte Sonja Steiger-Höller damals. Chaar erzählte aber auch, dass seine Eltern in Aleppo in verlassenen alten Autos leben mussten, weil die Wohnung zerstört war. Und er sagte: „In Syrien habe ich fast nur noch tote Freunde.“

Will Deutsche werden: Leen Shaker praktiziert als Kiefernorthopädin in München Foto: Quirin Leppert

Leen Shaker wiederum machte zu diesem Zeitpunkt Praktika bei Zahnärzten und arbeitete als Arzthelferin. Sie hoffte, dass ihre Ausbildung irgendwie und irgendwann einmal anerkannt würde. Diese Hoffnung war zu diesem Zeitpunkt sehr vage.

In fünf Jahren von Damaskus als Ärztin in die Nymphenburger Praxis – geht es noch besser? Dr. Leen Shaker spricht ein grammatikalisch vollkommen korrektes Deutsch, einen kleinen Akzent hört man ab und zu. Der Bruder studiert in Heidelberg Physik, eine Schwester Soziale Arbeit in Schwäbisch Gmünd. „Ich war sehr froh nach der Flucht“, erinnert sie sich. „Und jetzt kann ich hier weitermachen.“

Also alles bestens, ein Idealfall gelungener Integration? Man merkt, dass die zierliche Frau mit den schwarzen Haaren ein empfindsamer Mensch ist. „Meine Mutter und meine Geschwister sind mein Leben“, sagt sie. Doch die Mutter, 53 Jahre alt, muss in Damaskus ausharren. „Ich habe sie seit fünf Jahren nicht gesehen“, sagt Shaker, in ihren Augen steigen Tränen auf. Alle Versuche, sie zu einem Besuch nach Deutschland zu holen, seien bisher gescheitert. Alle Anträge abgelehnt – obwohl sie für sie bürgen würde, die Flüge bezahlen, sie in Deutschland versorgen. Der Grund, so vermutet sie, liegt darin, dass die die Behörden annehmen, dass die Mutter dann auf Dauer bleiben wollen würde.

Ich werde das Land, in dem ich aufgewachsen bin, nie wieder­sehen

Leen Shaker, Ärztin

Leen Shaker fühlt sich angekommen in Deutschland und doch zerrissen. „Ich habe keine Heimat“, sagt sie. „Ich werde das Land, in dem ich aufgewachsen bin, nie wiedersehen. Es gibt viel Schmerz in meinem Herzen.“ Nach ihrer letzten Kieferorthopädie-Prüfung, wenn sie etwas mehr Zeit hat, möchte sie ehrenamtlich etwas für andere Geflohene tun, in einem Helferkreis mitarbeiten. Denn: „Viele Flüchtlinge sind innerlich zerstört.“ Dann ist die Mittagspause vorbei, Patienten sitzen im Wartezimmer.

Omara Chaar lebte bis März 2017 im Flüchtlingsheim, seitdem hat er in Passau ein kleines, stadtnahes Apartment gemietet. Er erhält Bafög und kellnert nebenher im Restaurant des Passauer Scharfrichterhauses – einer Kultstätte bayerischer Kleinkunst und Kabaretts, wo etwa Bruno Jonas und Siggi Zimmerschied bekannt geworden sind. Chaar weiß, welchen österreichischen Rot- und welchen Weißwein er empfehlen kann. Er hat die Erfahrung gemacht: „Je mehr Bayerisch du redest, umso mehr Trinkgeld bekommst du.“ Zwischendurch lässt er immer wieder Sätze einfließen wie „Keine Panik auf der Titanic“ oder „Alles wird gut“ – und lacht dabei. Er meint: „Ich will hier weiter an die Uni, ich will nicht dreieinhalb Jahre Jura in Aleppo einfach hinschmeißen.“

Doch auch für Omara Chaar bleibt Syrien ein wichtiger Teil des Lebens. Seine Eltern in Aleppo hätten sich unlängst heftig gestritten, ob sie einem Gast eine Tasse Kaffee anbieten sollten oder nicht, berichtet er. Der Grund: Kaffee ist mittlerweile fast unbezahlbar. Chaar und sein Bruder, der nach Krefeld kam und dort jetzt als Buchhalter arbeitet, schicken weiterhin Geld nach Aleppo. Vor Kurzem ist dort der Großvater gestorben, 85 Jahre alt, an Corona. Chaar macht Pläne, wie man die Eltern aus Syrien herausholen könnte. Er denkt an eine Übersiedlung in die Türkei, wo sie sich wiedersehen könnten. Von wo vielleicht auch ein Weg nach Deutschland sichtbar wäre. „Ich möchte alles dafür tun“, sagt Omara Chaar, „dass mein Vater und meine Mutter aus Aleppo herauskommen. Sie sollen in ihrem Leben noch etwas anderes sehen als Bomben und Krieg.“

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3 Kommentare

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  • Wenn ich mir vorstelle das meine Eltern (81 und 86) in Aleppo leben müssten .. Da stellt sich schon die Schuldfrage - gerade jetzt wo raus kam das Nawalny mit einem Gift-Kampfstoff vergiftet wurde - wie kriegen wir Putin weg ?

  • RS
    Ria Sauter

    Schöne Geschichten, bewunderswert.



    Dies ist aber nur eine sehr kleine Minderheit, die so gut hier leben kann.



    Es gibt viel mehr andere Geschichten zu erzählen.

  • Es gibt aber auch andere Geschichten...



    Und davon nicht wenig.