Fünf Jahre Hartz IV: Die Erfindung der Angst
Vor fünf Jahren präsentierte Peter Hartz seine Arbeitsmarktreform. Was ist geblieben von den hochtrabenden Erwartungen?
Es war ein weihevoller Akt: Vor genau fünf Jahren wurde in den Berliner Dom geladen, wo der damalige VW-Manager Peter Hartz dann die 13 "Innovationsmodule" präsentierte, mit denen seine Kommission den deutschen Arbeitsmarkt revolutionieren wollte. Es war durchaus passend, den Hartz-Bericht in einer Kirche vorzustellen. Der Text war ein Heilsversprechen. Auf 343 Seiten wurde ausgebreitet, wie sich die Zahl der Arbeitslosen von 4 auf 2 Millionen glatt halbieren ließe. Und zwar innerhalb von drei Jahren. Das sei sogar noch "pragmatisch gerechnet", versicherte Hartz damals. Vielleicht könnten sogar mehr Stellen geschaffen werden - denn neue Arbeitsplätze im Osten seien noch nicht berücksichtigt. Auch für die öffentlichen Kassen hatte Hartz nur allerbeste Nachrichten parat: Spätestens ab 2005 würden sie jährlich 19,5 Milliarden Euro einsparen durch den neuen Trend zur Vollbeschäftigung. SPD-Kanzler Gerhard Schröder sah damals keinen Anlass, "die Formulierung der Ziele in Zweifel zu ziehen".
Bekanntlich ist die Zahl der Arbeitslosen bisher nicht auf 2 Millionen gesunken. Stattdessen waren es im Juli noch immer 3,7 Millionen - trotz der Hochkonjunktur. Auch andere Hartz-Ideen haben sich längst erledigt. So wollte Hartz rund 6 Millionen "Profis der Nation" zu einem "Commitment" verpflichten, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Doch die angepeilten 53.000 Pfarrer, 1,7 Millionen Unternehmer oder 545.000 Vereine konnten dem neuen Profititel offenbar nichts abgewinnen. Vergessen ist auch der "Job-Floater", der Firmen günstige Darlehen gewähren sollte, wenn sie einen Arbeitslosen einstellen. Die Betriebe zeigten keinerlei Interesse. Ein Flop waren schließlich die "Personal-Service-Agenturen", die Arbeitslose als Zeitarbeiter vermitteln sollten.
Sind die Hartz-Reformen also gescheitert? Und welche Folgen hatten sie für die Arbeitslosen? Das bleibt eine Frage der Perspektive. Sechs oft kontroverse Einschätzungen aus jüngerer Zeit.
"Über die Zweckmäßigkeit der Minijobs muss man nachdenken." (Ulrich Walwei, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, 10. 8. 07)
Dank der Hartz-Reformen sind Minijobs nun auch als Nebenbeschäftigung möglich. Ein beispielloser Boom setzte ein. Inzwischen gehen rund 7 Millionen Menschen einer geringfügigen Beschäftigung nach. Arbeitslose habe allerdings kaum von der Neuregelung profitiert. Unverändert werden lieber Studenten, Hausfrauen, Rentner und eben normal Berufstätige eingestellt. Diese Einschätzung findet sich auch in der offiziellen Bilanz der Hartz-Reformen, die die Regierung kurz vor Weihnachten vorstellte. Konsequenzen sind allerdings nicht zu erkennen - es ist politisch heikel, 7 Millionen Minijobber zu verärgern, indem man ihnen den geringfügigen Zuverdienst wieder streicht.
"Vermittlungsgutscheine sind ein erfolgreiches arbeitsmarktpolitisches Instrument." (CDU/CSU- und SPD-Bundestagsfraktion am 6. 8. 07)
Und weil die Regierungsfraktionen so begeistert sind, wollen sie nun die Laufzeit der Vermittlungsgutscheine gleich bis Ende 2010 verlängern. Dabei hatte der Bundesrechnungshof erst im November vergangenen Jahres empfohlen, die Ausgabe der Vermittlungsgutscheine einzustellen. Denn bei Stichproben hatten die Kontrolleure eine "Mitnahmequote" von 27 Prozent festgestellt.
Private Vermittler erhalten im Regelfall 2.000 Euro, wenn sie einem Arbeitslosen eine Stelle beschaffen. Dieses Angebot wurde recht fantasievoll genutzt: So haben sich Unternehmen mit Vermittlern zusammengetan, um für ihre sowieso freien Stellen von der Bundesagentur auch noch eine Vermittlungsgebühr zu kassieren. Zudem führen die Vermittlungsgutscheine nur selten zum Erfolg: 2006 wurden 63.000 ausgegeben - aber nur jeder zehnte wurde auch tatsächlich eingelöst, wie der DGB gestern kritisierte.
"Gegenüber dem Vorjahr wurden 671.000 Arbeitslose weniger gezählt." (Arbeitsmarktbericht der Bundesagentur für Juli 2007)
Allerdings wechseln nicht alle Beschäftigte in einen regulären Job, denn die Hartz-Reformen haben auch die befristete Beschäftigung letztlich unbegrenzt ermöglicht. 2006 wurden bereits 600.000 Menschen als Leiharbeiter beschäftigt, wie der Bundesverband Zeitarbeit gezählt hat. Das waren 32 Prozent mehr als 2005. In diesem Jahr wird noch einmal mit einem Plus von 20 Prozent gerechnet.
Zudem sind immer mehr Beschäftigte zusätzlich auf ergänzendes Arbeitslosengeld II angewiesen. 1,1 Millionen Hartz-IV-Empfänger haben einen Job - rund 600.000 sind sogar sozialversichungspflichtig angestellt.
Ein weiteres Alarmzeichen: Trotz Hochkonjunktur steigt die Zahl der Armen und vor allem der armen Kinder unaufhörlich. Inzwischen leben 1,929 Millionen Kinder unter 15 Jahren in einer Hartz-IV-Familie. Das sind 16,9 Prozent aller Kinder in dieser Altersgruppe.
"Die große Mehrzahl steht nicht schlechter da." (Frank-Jürgen Weise, Chef der Bundesagentur für Arbeit, am 13. 8. 07)
Es ist erstaunlich, dass Weise keinen Sozialabbau erkennen kann - kommt doch ausgerechnet sein hauseigenes Forschungsinstitut zu anderen Ergebnissen. Der Druck auf Erwerbslose habe "generell stark zugenommen", konstatiert Walwei vom Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Die Transferleistungen seien jetzt "weniger großzügig".
Diese Einschätzung passt zur Logik der Hartz-Gesetze. Durch die Hartz-Reformen wurde die Arbeitslosen- mit der Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II zusammengelegt - auf dem Niveau der niedrigen Sozialhilfe. Der Regelsatz für einen Single liegt nun bei 347 Euro plus Wohnungskosten. Zugleich wird das gehaltsabhängige Arbeitslosengeld I nur noch für 12 Monate gezahlt. Nur wer über 55 Jahre alt ist, erhält es für 18 Monate.
"Die Höhe der Regelleistung widerspricht nicht höherem Recht." (Bundessozialgericht Kassel, 23. 11. 06)
Übersetzt: 347 Euro reichen monatlich zum Leben. Das Existenzminimum ist damit gesichert. Dieser Optimismus schwindet jedoch ausgerechnet bei jenen Parteien, die einst die Hartz-Reformen beschlossen haben. Grünen-Chef Reinhard Bütikofer meint inzwischen, dass "die richtige Bandbreite [] zwischen 390 und 450 Euro" liege. SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering will ebenfalls prüfen, ob das Arbeitslosengeld II nicht steigen muss. Selbst in der CDU mehren sich die Stimmen, die die Hartz-IV-Sätze an die steigenden Lebensmittelpreise anpassen wollen. Die Wohlfahrtsverbände sagen schon seit Jahren, dass die Regelsätze um 20 Prozent angehoben werden müssten.
89,7 Prozent empfinden den sozialen Abstieg als größte Bedrohung. (Emnid-Umfrage vom Juni 2007)
Die Hartz-Reformen haben in Deutschland Ängste ausgelöst. Im reicheren Westen sorgen sich sogar 94,3 Prozent um ihre Zukunft, im Osten sind es 88,5 Prozent. 70,5 Prozent fürchten ganz konkret, dass sie irgendwann einmal zum Hartz-IV-Empfänger werden könnten. 77,9 Prozent sehen wenig Chancen für ihre Kinder. Von diesen Sorgen profitiert vor allem die Linkspartei, die in den Umfragen inzwischen bundesweit 13 Prozent erreicht.
Die Hartz-Reformen kamen immer mit dem Anspruch der Modernität daher. Auch sprachlich. Aus Arbeitsämtern wurden "Agenturen", aus Arbeitslosen "Kunden" und aus Beratungsstellen "Jobcenter". Doch bei den Bürgern setzte sich der Eindruck fest, dass ein technokratisches Monster entstanden ist. Die Regierung betrachtet es heute als einen semantischen Unfall, dass von all den schönen Namen für die Reform letztlich nur dieser seltsame Leitbegriff "Hartz IV" übrig blieb. Aber er passt eben perfekt. Er erinnert an ein messianische Projekt, das in den Widrigkeiten von Wirklichkeit und Bürokratie steckengeblieben ist.
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