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Frühstück im Swimmingpool

In Bad Hersfeld steht die größte romanische Kirchenruine Europas. Im Sommer dient sie als Theaterkulisse für hochkarätig besetzte Freilichtspiele  ■ Von Martin Krumbholz

Bad Hersfeld ist ein Kurort wie jeder andere. Die Fachwerkfassaden rund um den Marktplatz werden liebevoll instand gehalten, der Markt ist nicht auf dem Markt (da ist der Parkplatz), sondern nebenan, die Fahnen knattern im Wind und Rentner sitzen auf den Bänken und essen Kekse. Eine Frau prügelt ihr Kind, weil es über die Blumenbeete gelaufen ist, eine vorbeikommende Rentnerin gibt ihren Senf dazu: „Eine Schande ist das!“ Sie meint nicht die Strafe, sondern den Anlaß. Die Mutter, nicht faul, kontert: „Ja, die Alten machen's vor und die Jungen machen's nach.“ Die Rentnerin trollt sich. Die junge Mutter hat unrecht: In Bad Hersfeld laufen die Alten nicht über die Beete; sie sitzen, wie gesagt, auf den Bänken und essen Kekse. Die Bäder sind empfehlenswert.

Aber etwas hat Bad Hersfeld, das hat nicht jeder. Im 8. Jahrhundert wurde in diesem Örtchen in Nordhessen eine Benediktinerabtei gegründet, im 12. dann eine große Kathedrale erbaut, die 1761, wie es auf einer Plakette heißt, „kriegerischen Ereignissen“ zum Opfer fiel und „seitdem Ruine“ ist. Fast klingt es ein wenig stolz, daß man sich über die Jahrhunderte hinweg so eine repräsentative Ruine geleistet hat. Schließlich handelt es sich um die größte romanische Stiftsruine Europas. Seit etlichen Jahren wirkt die Ruine wie ein Magnet auf die Theaterfreunde der Region: Hier finden professionelle, oft hochkarätig besetzte Freilichtspiele statt, drei oder vier Schauspiele, aber auch Musicals sowie Opern- und Konzertaufführungen.

Da steht man an einem (wahrscheinlich unfreundlichen) Sommerabend im großen Pulk und wartet auf das dreifach wiederholte Trompetensignal, das echt mittelalterlich zum Einlaß ruft. „Wolldeckenverleih 5 DM, Pfand 10 DM!“ Über eine provisorische Treppe gelangt man auf die Tribüne, die im Mittelschiff der Ruine errichtet wurde. Hier fühlt man sich mindestens so erhaben wie in einem Tarkowski-Film. Rechts und links die kahlen Mauern mit den hohlen Fenstern. Oben nichts. Vorne die gigantische Apsis von schier unendlicher Tiefe, die die Bühne ist, und man denkt: „Gewaltig.“ Aber wie sollen die Schauspieler gegen diese übermächtige Kulisse überhaupt anspielen? Dann wickelt man sich erst einmal in seine Wolldecke, denn es ist kühl, und es wird im Laufe eines womöglich langen Abends – Freilichterfahrene wissen das – immer kühler werden.

Die Magie des Freilichttheaters ist letztlich unergründlich. Was bringt 80.000 Menschen pro Saison dazu, bei Wind und Wetter, bei Nacht und Nebel, unter Kölnisch- Wasser- und Knoblauch-Düften einem Kunstgenuß zu frönen, den sie im heimischen X oder Y, wenn nicht besser, so doch jedenfalls ungleich komfortabler haben könnten? „Die Räuber“ werden schließlich auch anderswo gegeben, und sternklare, laue Sommernächte à la Verona lassen sich in diesen Breitengraden nun beim besten Willen nicht herbeizaubern. Immerhin gibt es in Bad Hersfeld seit einigen Jahren ein Zeltdach, das sich im Bedarfsfall in wenigen Minuten, nahezu geräuschlos, bei laufender Vorstellung über unseren Köpfen schließt. Die Zeiten, in denen Freilichtintendanten und Karteninhaber mittags aufs Barometer klopfen, sind vorbei. Die Schauspieler werden trotzdem naß, und gegen die Kälte nützt es wenig. Den Franzosen Daniel Benoin, der die urdeutschen stürmenden und drängenden „Räuber“ inszeniert, ficht all das wenig an. Seine Regie gilt weniger den Höhen und Tiefen des Stücks als den Ohren und Augen des Zuschauers. Ton und Licht, heißt die Devise. Der Bühnenbildner Alois Gallé hat ein großes Beet weißer Rosen ganz in die Tiefe der Apsis gepflanzt. Eine listig-verstohlene Reverenz an den Geist von Hersfeld – oder nur ein hübsch-unverbindlicher Augenschmaus? Angesichts der analytischen Unbedarftheit der Inszenierung ist letzteres zu befürchten. Wes Geistes Kind diese Räuber sind, und ob sie uns heute noch aufregen (sollten), hat Benoin nicht interessiert. Und auch nicht die Gegenseite, der böse intellektuelle Franz, sondern nur dessen doppelter Schatten: Zwei Umbausklaven äffen den Schurken in seinem Outfit (grauer Anzug, Brille) nach, bis er höchst dekorativ an der Ruinenmauer baumelt. Leise rieselt der Schnee (aus der Schneemaschine, nicht gar vom Freilichthimmel!) auf die Rosen, weiß auf weiß. Und wer unter den Zuschauern – es geht auf Mitternacht zu – inzwischen halbwegs erfroren ist, dem kann nun endlich geholfen werden: mit einem Glühwein oder einem heißen Bad im Hotel. Der Österreicher Peter Lotschak leitet die Festspiele seit 1988. Er residiert in der ehemaligen Abtei (die sich als Quergebäude unmittelbar an die Stiftsruine anschließt), was ihm logischerweise den Spitznamen „Abt von Hersfeld“ eingetragen hat, obwohl an die Stelle von Pritsche und Geißel längst ein angenehmes, ganz in Schwarz gehaltenes Chefzimmer getreten ist. Die Festspiele, sagt Lotschak, müssen praktisch wie ein Privattheater geführt werden: Flops sind nicht drin, erlaubt ist, was gefällt. Andererseits sind oft ganze Vorstellungsserien nur per Titelnennung von vornherein ausgebucht: das macht es möglich, sich auch schon mal eine Uraufführung wie Harald Muellers „Kohlhaas“ zu leisten, die sich nur zu 67 Prozent Auslastung verkaufen läßt. In die Freilichttheater kommen nicht selten Leute, die sonst niemals ein Theater betreten. Lotschak unterscheidet grob zwei Gruppen von Zuschauern: Etwa zwei Drittel haben ein Pauschalarrangement gebucht; etwa ein Drittel reisen individuell an, oft von weit her: Auf der Suche nach der Alternative zum heimischen Stadttheater, das die Klassiker (wie diese Zuschauer zumindest meinen) allzu grob gegen den Strich bürstet. Diese zweite Gruppe möchte „behutsam zum Theater der Interpretationen herangeführt werden“. Irritationen, Abweichungen von der ästhetischen Norm werden goutiert, wenn sie gefällig daherkommen oder entsprechend schick verbrämt sind. Konservativer Mief ist keineswegs en vogue. „Spinnereien sind möglich“, weiß Lotschak, „wenn sie Pfiff haben. Die Leute machen dann Mundpropaganda für uns: Im Grandhotel Kunst wird das Frühstück jetzt im Swimmingpool serviert – aber die Kellner hatten phantastische Gummianzüge an!“

Freilich, auch die Mischung ist wichtig. Das Mädchen, das in der Requisite mithilft, bringt es auf den Punkt: „Die Räuber sind am dramatischsten, Scapin ist am lustigsten, das Welttheater am langweiligsten.“ Apropos Scapin: An Lotschaks eigener Inszenierung läßt sich recht gut ablesen, was der Intendant unter festspielgerechtem Theater versteht. Das muß nämlich durchaus kein ödes Theater sein. „Die Streiche des Scapin“ sind gewiß eine der harmlosesten Komödien, die Molière je geschrieben hat: Es geht darin um so leichtverknotete Probleme wie die, daß zwei junge Männer heimlich zwei Mädchen ehelichen, die ihre zwei Väter – veritable Geizkrägen einer wie der andere – nicht als Bräute akzeptieren mögen. Aber die Aufführung ist hervorragend besetzt, hat komödiantischen Schwung, zeichnet sich durch eine beachtliche Kenntnis der Traditionen der Commedia dell'arte aus, ist keine Minute langweilig und trifft aus diesen Gründen ihr Publikum mitten ins Herz.

Und nun das versprochene Frühstück im Swimmingpool. Dem Hauptstück des Abends hat Lotschak das kleine „Vorspiel in Versailles“ vorangestellt, worin die Truppe des Molière sich mit vielem Hin und Her auf die Aufführung einer Komödie vorbereitet: Theater auf dem Theater. Dieser Kunstgriff erlaubt dem Regisseur später den höchst riskanten Coup, ausgerechnet in die spektakulärste, komödiantischste Szene des „Scapin“ einen dubiosen „Monsieur le Marquis d'Inspecteur des spectacles“ (dargestellt von einer sehr umfangreichen Dame) platzen zu lassen, der nun den fassungslosen Scapin/Molière zwingt, ihn beim Vortrag einer hanebüchenen Arie auf dem Cembalo zu begleiten. „Welche Ehre!“ stöhnt der Künstler sarkastisch. Erst danach geht es weiter im Text. Ein mutiges Intermezzo, denn so etwas kann sich nur leisten, wer auf dem Boden der Komödie ganz sicher steht. Und auch ein bedenkenswertes: Folgt auf den dreisten Interruptus der Kunst bald, am Ende des Jahrhunderts, der ultimative Abruptus, wg. Ebbe in der Kasse etc.pp.?

Schöne Aussichten indes: Bad Hersfeld hat unverändert Konjunktur. Das Musical „Hair“ ist ausgebucht, „Räuber“ und „Scapin“ liegen ebenfalls nicht schlecht im Rennen. Im nächsten Jahr, heißt es, soll der französische Theatermagier Jérôme Sávary ins Grandhotel Kunst einziehen und mit der Tragödie vom Dänenprinzen Hamlet die Ruine erschüttern. Sie würde es überleben.

Die Saison dauert bis zum 8. August. Auskünfte und Kartenvorbestellungen: Festspiele Bad Hersfeld, Postfach 1753, 36251 Bad Hersfeld, Telefon 06621/72066 bis 069,

Fax: 06621/201337.

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