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Archiv-Artikel

Frühstück für immer

Hoyerswerda war eine Vorreiterstadt, und sie wird es wieder sein. Das ist ihre einzige Chance

aus Hoyerswerda UWE RADA

Man kann Hoyerswerda sehen wie die meisten: Schwarze Pumpe pumpt nicht mehr, die Menschen weg oder alt oder ausländerfeindlich, die Wohnungen leer und auf Abriss. „Der Ofen ist aus im Eisenland“, hatte der Rockpoet und Baggerfahrer Gerhard Gundermann gesungen, bevor er 1998 starb. Nun liegt auch seine Stadt im Sterben.

Man kann Hoyerswerda aber auch sehen wie Dorit Baumeister. In ihrem Büro in der Walther-Rathenau-Straße stehen Kartons. Keine Umzugskartons, sondern Kartons, in denen sich die „Superumbau“-Kataloge stapeln. „Superumbau“, das war sechs Wochen Kunst und soziale Intervention für die Platte und die Menschen, die noch in ihr leben. „Mit Superumbau“, freut sich die 40-jährige Architektin und Erfinderin der Kunstaktion, „haben wir Hoyerswerda die Aufmerksamkeit verschafft, die die Stadt verdient.“

Hoyerswerda-Neustadt, das war einmal Aufbau-Ost, wie er im Lehrbuch stand. Bau auf!, Bau auf! Eine über die Lausitz geworfene Utopie in industrieller Bauweise, damals, als die DDR noch so jung war wie die Menschen, die es in die Bergarbeiterstadt zog. Pioniere waren sie, die Neustädter, stolz und auch ein bisschen verwegen, weil sie wussten, dass die ganze Republik auf sie schaute. Schließlich galt es, die nach Eisenhüttenstadt „zweite sozialistische Stadt der DDR“ zu bauen.

Und nun das. Abbau-Ost, wohin das Auge blickt. Abrisskran statt Braunkohlebagger. Möbelwagen, die aus der Stadt rollen statt in sie hinein. Wer soll nun auf Hoyerswerda schauen?

Dorit Baumeister antwortet nicht, sie reicht die Pressemappe. Richtig dick ist die, so viel Presse hatte Hoyerswerda schon lange nicht mehr, vor allem nicht dort, wo man Zeitungen wie die Stuttgarter Nachrichten liest, den Schwarzwälder Boten, die Ruhrnachrichten oder die Frankfurter Rundschau. „Im Westen“, sagt Baumeister, „blickt man mit wachsender Neugier auf Hoyerswerda. Schließlich weiß man, dass es schrumpfende Städte bald auch in den alten Ländern geben wird.“

Superumbau also, nicht Stadtumbau, den kennt man auch in Bremen oder Dortmund: Konversion, Umnutzung, Abriss, Neubau. Superumbau dagegen ist mehr, bedeutet: Achtung, hier geht es ums Ganze, wenn auch nicht mehr um alles oder nichts, weil alles, das ist lang vorbei in Hoyerswerda. So wie auch in den anderen schrumpfenden Städten Ostdeutschlands, die man besser sterbende Städte nennen sollte, weil Schrumpfen ja noch immer etwas hat von Gesundschrumpfen. Beim Sterben dagegen gibt es keine Missverständnisse, da geht es höchstens um einen kleinen Aufschub. Oder um Sterbehilfe.

So mögen die Feuilletonisten aus dem Westen gedacht haben, als sie im August und September nach „Hoywoy“ kamen. Doch dann haben sie wie Johannes Wendland den Film von Laura Bruce gesehen. Über Menschen aus Hoyerswerda, die aus den Tagebüchern von Brigitte Reimann lesen, auch so einer gebrochenen Utopistin, genau wie ihre Romanarchitektin Franziska Linkerhand. Der Film von Laura Bruce, wird Wendland später schreiben, „zeigt ernsthafte Gesichter von Menschen, denen die vorgelesenen Aussagen über Fremdheit, Heimweh und den Willen, sich durchzubeißen, nicht fremd sind“. So haben die Leser der Frankfurter Rundschau von ihrem Reporter erfahren, dass der Osten nicht nur stirbt, sondern auch kämpft, ums Überleben. Kennt man ja selbst, irgendwie, oder?

Der Osten steht auf der Kippe, das weiß man spätestens seit Wolfgang Thierse. Man weiß vielleicht auch, dass zwischen Stralsund und Chemnitz eine Million Wohnungen leer stehen, dass 300.000 von ihnen abgebrochen werden sollen bis 2009, „Stadtumbau-Ost“ nennt sich das Bundesprogramm zum Gesundschrumpfen der Wohnungsbaugesellschaften, staatlich gefördert und wie immer euphemistisch. Aber weiß man, was es bedeutet, wenn Städte ein Viertel ihrer Bewohner verloren haben? Wie es sich anfühlt, in einer schrumpfenden oder gar sterbenden Stadt zu leben? Wenn der nächste Bäcker schließt, dann die Sparkasse und, nachdem der Ofen aus ist in Eisenland, auch die letzte Tankstelle? Was passiert sein muss, wenn selbst einer wie der Architekturkritiker Wolfgang Kil einen „geordneten Rückzug“ fordert? Schließlich, gibt Kil zu bedenken, gäbe es noch Schlimmeres: „den ungeordneten Rückzug beispielsweise, die langsam knirschende Auflösung“.

So wie in Hoyerswerda, WK X. Leerstand gibt es im jüngsten der zehn Wohnkomplexe der Neustadt kaum, dafür billige Mieten, familiengerechte Grundrisse und die Nähe zum Kiefernwaldrand. Der WK X, fertig gestellt, als die DDR schon zu Ende war, wäre eine Erfolgsgeschichte, wäre da nicht die Lage am Rand der Stadt. „Früher oder später müssen wir hier auch abreißen, und nicht nur in der Mitte der Neustadt, wo der Leerstand am höchsten ist“, sagt Dorit Baumeister.

Vom Rückbau in Schwedt haben die Rückbaupioniere in Hoyerswerda gelernt, dass Städte anfangen zu stinken, wenn man sie in der Mitte auseinander reißt. Weil das Wasser in der Kanalisation nicht mehr fließt, sondern steht. Auch das so ein Wissen, das man im Westen erst noch erwerben muss. „Wachstum ist einfach“, sagt Dorit Baumeister. „Wachstum haben wir an den Universitäten studiert und im Beruf praktiziert, aber übers Schrumpfen wissen wir wenig.“ Übers Schrumpfen kann man in Neustadt tatsächlich etwas lernen. Auch im Westen. 60.000 Menschen haben mal in den zehn Wohnkomplexen gelebt. Heute sind es noch 30.000. Nach jüngsten Berechnungen der Stadtverwaltung sollen 2015 in Hoyerswerda-Neustadt noch 15.000 Menschen wohnen. Oder bald sterben, denn die meisten von ihnen werden Rentner sein.

Einige von denen, die schon heute Rentner sind, hat auch Johannes Wendland, der Reporter für den Westen, beobachtet. „Ihr Lebensgefühl schwankt zwischen Lethargie, Trotz und ‚Der Letzte macht das Licht aus‘. Und doch konnte die Berliner Theaterregisseurin Andrea Moses für ihren Beitrag zum ‚Superumbau‘ genügend Rentnerinnen und Rentner aus Hoyerswerda finden, die bereit sind, einen Teil ihrer Lebensgeschichte noch einmal nachzuspielen“, schreibt Wendland nach seiner Rückkehr aus Hoyerswerda über die „jungen, zukunftsfrohen Menschen von damals, die sie selbst einmal gewesen sind“.

„Als ich dieses Stück gesehen habe“, sagt Dorit Baumeister, „habe ich begriffen, Hoyerswerda war eine Vorreiterstadt, und sie wird es wieder sein. Das ist die einzige Chance, die die Stadt hat, ein Labor zu sein, ein Experimentierfeld für das Neue, auch wenn das Neue nicht mehr Aufbau heißt, sondern Rückbau.“

Hier geht es ums Ganze, wenn auch nicht mehr um alles oder nichts. Alles, das ist vorbei in Hoyerswerda

Und Baumeister hat begriffen, dass das Neue nicht der physische Stadtumbau ist, nicht die Stadtvillen, die man an der Liselotte-Hermann-Straße an die Stelle der Elfgeschosser gesetzt hat, nicht der Abriss jedes zweiten Plattenriegels im WK IX. Stadtumbau, das ist vor allem der Umbau in den Köpfen, das, was die Zurückgebliebenen beschäftigt, wenn sie abends in den Schlaf fallen, und was noch da ist, wenn sie morgens wieder aufwachen.

„Das Einzige, was wir in schrumpfenden Städten haben, sind die Menschen, die noch hier sind“, sagt Dorit Baumeister. „Warum sollen die nicht stolz darauf sein, 50 Jahre nach der ersten Pionierzeit wieder etwas Neues zu leisten? Warum sollen die Jungen, wenn sie nach Hamburg oder München gehen, immer nur zu hören bekommen: Nazistadt, Abrissstadt? Warum sollen sie nicht darauf antworten, dass sie aus einer Stadt kommen, in der man Zukunft probt?“

Unter westdeutschen Stadtplanern und Architekten ist die Botschaft angekommen. Schrumpfung ist schon lange kein Problem nur des Ostens mehr, war man sich auf der Jahrestagung der Akademie für Städtebau und Landesplanung in Kiel einig. „Selbst in Hamburg gibt es Quartiere, in denen der Leerstand wächst“, sagt der ehemalige Baudirektor der Stadt, Tassilo Braune. „Das Nebeneinander von Wachstum und Schrumpfung ist überall zu beobachten. Was den Osten vom Westen unterscheidet ist nur, dass diese neue Ungleichheit dort besonders deutlich wird.“

Dorit Baumeister erschrickt nicht, wenn sie solche Botschaften hört. Auch nicht, wenn in Leipzig die Vision von der „perforierten Stadt“ die Runde macht, die Zukunft als eine Art Schweizer Käse, die Stadt ein Patchwork, wie das Leben. Baumeister weiß, dass der Weg von der Krise zur Chance nur über die Wahrheit geht. Das ist in der Psychologie einer Stadt nicht anders als bei der eines Menschen. „Viel zu lange hat man die Wahrheit verschweigen, hat die Bevölkerungsprognosen schöngerechnet, hat vom Umbau gesprochen, wo es schon jedem klar war, dass es um Rückbau geht.“ Baumeister glaubt nicht, dass die Menschen in Hoyerswerda-Neustadt die Wahrheit nicht ertragen. Im Gegenteil. „Diese Wahrheit ist die Voraussetzung zu sagen, ihr habt die Vorreiterrolle, ihr müsst sie nur annehmen.“

Inzwischen hat Baumeister schon ein Folgeprojekt angeschoben. Gemeinsam mit den beiden Wohnungsbaugesellschaften und der städtischen Klinik soll die Stelle eines Stadtschreibers ausgeschrieben werden. „Wenn wir wissen wollen, was die Schrumpfung mit einer Stadt und ihren Menschen macht, dürfen wir uns nicht auf Stadtplanung oder Kunst verlassen, da braucht es auch wieder die Schriftsteller.“ Es wird keine leichte Aufgabe sein, die den Chronisten der Zukunft in Hoyerswerda erwartet. In einer Stadt, in der das Rufen in der Wüste fast schon eine Tradition hat wie andernorts das Richtfestfeiern. Wie bei Gerhard Gundermann etwa, der seine vorletzte Platte ebenso trotzig wie verbittert „Frühstück für immer“ nannte. Oder bei Brigitte Reimann, die in ihrer Tagebuchnotiz 1974 die Zukunft am Ende der Industriezeit vorwegnahm: „Und die Wasser werden steigen und Boote mit weißen und orangenen Segeln über die Plätze und Viertel der Stadt gleiten, Vineta ohne Glocken, und über versunkene Erinnerungen an Kohleflöze und Quittenblüten und Tellerklirren zur Abendbrotzeit.“