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Frühling nach Laune

■ Unter Palmen dösen? Skorpione fegen?

Tessin – Niemand würde das tun. Aber man könnte. Immer wieder rein in den Gotthard-Tunnel, bei Airolo (Tessin, Sonne, mild, Frühling) drehen, zurück durch den Tunnel, bei Göschenen (Uri, Niesel, kalt, Winter), drehen und wieder retour. Frühling anknipsen. Frühling ausknipsen. Das wäre die Grobeinstellung. Die Feineinstellung aber geht so: Vom sonnigen unteren Centovalli aus steigt man über fette Feuersalamander durch Esskastanienwälder bergan, schwitzt, dampft, springt nackt in einen Bergbach, quält sich über verrutschte Pfade an Ziegenvolk vorbei ins Baumlose, zieht einen Pullover an, wirft den ersten Schneeball, und bei 1.000 Metern über Null versinkt man bis zur Hüfte im Schnee. Dann steigt man ab, hüpft über einen wildgewordenen Bach namens Melezza, balanciert über eine Höhenlinie zum bewusstseinsverändernden Monte Veritá, sagt „aaaah“, wenn der Lago Maggiore in Sicht kommt, stolpert runter nach Ascona, schlendert kurz-ärmlig unter Palmen die Strandpromende entlang und läßt sich in einen der bereit stehenden Caféhausstühle fallen. Un Capuccino, per favore. Tessin – das heißt: Jedem sein Frühling. Schneefrühling oder Palmenfrühling – alles fußläufig erreichbar. Wer meint, Frühling sei Tretbootfahren auf dem Lago – bitte. Oder ist das Frühling: überwinterte Esskastanien sammeln und in der Pfanne rösten? Frühling kann grau sein wie die spät ausschlagenden Laubbäume, die das Centovalli bedecken. Oder grün wie Smaragdeidechsen an den Weinbergmauern. Oder gelb wie die Mimosen, die sich an die kleinen Steinhäuschen dieser vergessenen Dörfer lehnen, wo Deutschschweizer zu Sommersitzen mit dem Helikopter einfliegen lassen. Frühling im Tessin kann der Wochenendstau durchs enge Centovalli von Locarno nach Domodossola sein oder zweihundert Neckermänner, die Ascona verstopfen. Wen aber solcher Trubel nicht anzieht, der findet seinen Frühling 100 Meter abseits. Da hört man nichts außer Jungbienen und sieht – natürlich Drachenflieger.

Ich bevorzuge folgenden Frühling: Weinberghaus oberhalb von Cavigliano, Skorpione sind vor die Tür gefegt, Trinkwasser kommt aus dem Berg, es riecht nach Holzfeuer, Ostergeläut aus allen Dörfern, eine Wiese mit taufrischen Gänseblümchen. Und was liegt da im Gras? Ein Zwanzigfrankenschein! So muss mein Frühling sein. BuS

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