piwik no script img

Umerziehung in Borkum„Ich habe geglaubt, meine Eltern haben mich verkauft“

Lange wurden Kinder nach Borkum „verschickt“. Das Ziel: Umerziehung – mit Folgen für die Kinder. Jetzt wird eine Erinnerungsstätte für sie eingeweiht.

Eine historische Postkarte des Nordseeheilbads Borkum: Auf der Insel wird Erinnerungsstätte für „verschickte“ Kinder eingeweiht Foto: Sabine Ludwig/dpa
Interview von Wilfried Hippen

taz: Herr Uwe Rüdenklau, wie wichtig ist es für Sie, dass es nun auf der Nordseeinsel Borkum eine Erinnerungsstätte für die Verschickungskinder geben wird?

Uwe Rüdenklau: Ich wurde selber im Jahr 1970 als sechsjähriges Kind in das Adolfinenheim auf Borkum verschickt und hatte das verdrängt, bis ich im Jahr 2020 einen Fernsehbericht der ARD-Sendung „Report Mainz“ über die Behandlung von Verschickungskindern gesehen habe.

taz: Welche Erinnerungen wurden bei Ihnen wiedergeweckt?

Rüdenklau: Das Schlimmste für mich war, dass es während der sechs Wochen langen Verschickung keinen Kontakt zu meiner Familie gab. So wurden etwa die Briefe von meinen Eltern und Freunden nicht an mich weitergegeben. Als Vorschulkind habe ich geglaubt, meine Eltern hätten mich verkauft.

Bild: privat
Im Interview: Uwe Rüdenklau

1964 geboren, war 1970 Verschickungskind, macht beruflich Lobbyarbeit für eine internationale Firma und sitzt der Initiative Verschickungskinder vor.

taz: Sie haben dann eine Gruppe mit Betroffenen mitgegründet. Gleichen sich Ihre und deren Trauma-Erfahrungen?

Rüdenklau: Es gibt inzwischen in ganz Deutschland viele solcher Gruppen von Betroffenen. In Borkum sind wir um die 120 Leute, die schon in den 1950ern und noch in den 1980er-Jahren als Kinder dort waren und viele unserer Erinnerungen decken sich. Ich habe ja immer gedacht, ich wäre ein Einzelfall.

taz: Was haben Sie dort erlebt?

Rüdeklau: Das Gröbste war das Essen. Ein Ziel von diesen Heimen war, dass die Kinder an Gewicht zunahmen. Wir wurden regelmäßig gewogen und man musste immer alles aufessen. Auch wenn man das nicht mochte. Das ging so weit, dass einige ihr Essen erbrochen haben und sie dann das Erbrochene essen mussten. Schrecklich war auch, dass es zu festen Zeiten eine Bettruhe gab. Und man durfte dann nicht mehr aus dem Schlafzimmer, auch wenn man auf Toilette musste. Man musste dann zwangsläufig ins Bett machen und am nächsten Tag wurden wir dafür von den Diakonissinnen vor allen anderen gedemütigt.

Einweihung der Erinnerungsstätte zur Anerkennung des Leids der ehemaligen Verschickungskinder aller Heime auf Borkum, 30. Juli, 11.30 Uhr auf auf dem evangelisch-lutherischen Friedhof in der Süderstraße

taz: Glauben Sie, dass Sie und die anderen Kinder damals böswillig misshandelt wurden?

Rüdenklau: Böswillig will ich nicht sagen. Das Ziel war eine Umerziehung. Meine Eltern und Geschwister haben mir erzählt, ich wäre als ein anderes Kind von dort zurückgekommen. Ich haben zum Beispiel nicht mehr von alleine angefangen zu essen und ich habe mir anders als davor sehr wenig auf den Teller getan, weil ich im Heim auf Borkum ja immer alles aufessen musste. Und ich hatte eine Blasenschwäche als ich zurückkam. Es hat wohl ein halbes Jahr gedauert, bis ich mich wieder normal verhalten habe.

taz: Sie sind Vorsitzender der Initiative Verschickungskinder. Was versprechen Sie sich davon, dass es jetzt diese Erinnerungsstätte gibt?

Rüdeklau: Für mich ist es ein wichtiges Zeichen der Anerkennung, um die wir ehemaligen Verschickungskinder ja kämpfen. Und für mich ist es wichtig, solch einen konkreten Ort zu haben, um mich zu erinnern.

taz: Wie wurde Ihre Initiative von den Menschen auf Borkum aufgenommen?

Rüdenklau: Es haben viele gespendet. Etwa die Franziskanerinnen, die auch für einige Heime verantwortlich waren. Nur vom Bürgermeister hatten wir mehr Unterstützung erhofft. Wir wollten eigentlich die Erinnerungsstätte zentraler an dem kleinen Bahnhof von Borkum haben, wo wir alle mit der Bahn angekommen sind. Aber das hat er verhindert und darum hat es auch so lange gedauert. Den jetzigen Standort am ehemaligen Standort des Adolfinenheims haben wir mit der Hilfe der Kirche vor Ort bekommen.

taz: Und wie wird diese Erinnerungsstätte aussehen?

Rüdenklau: Sie besteht aus einer Skulptur, die ein Verschickungskind darstellt und vom Künstler Friedhelm Welge gestaltet wurde, der auch ein Betroffener ist.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare