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Frontstaat?

■ Frankreich und der „Tag der Deutschen“ EUROFACETTEN

Seit dem 9. November haben sich in Frankreich diverse Stimmen zur deutschen Wiedervereinigung zu Wort gemeldet. Die Erinnerung an die beiden Versuche Deutschlands, die Welt zu beherrschen, und die Schrecken, deren sich dieses Land zu verantworten hat, belebte sich neu. Man fürchtet ein Deutschland, dessen Ökonomie sich nach und nach die anderen europäischen Staaten unterwerfen würde, um ihnen zuletzt ein gesellschaftliches Modell aufzudrängen, das sich mehr durch seine Effizienz denn durch Savoir-vivre auszeichnet. Auch wird an der deutschen Fähigkeit gezweifelt, das Gespenst eines Mitteleuropas im Zaum zu halten, dessen Rückkehr in der Vorstellungswelt Frankreichs mit der Gefahr balkanischen Chaos' gleichgesetzt wird. Dennoch — trotz des Kohlschen Eiertanzes um die Oder-Neiße-Grenze — hat Paris letztlich nicht nur die Unausweichlichkeit der Vereinigung anerkannt, sondern konstruktiv an den 4+2-Gesprächen teilgenommen und schließlich von sich aus den allmählichen Abzug seiner in Deutschland stationierten Truppen vorgeschlagen.

Von nun an setzt Frankreich eindeutig auf die politische Reife seines deutschen Partners. Bald dürfte es selbst an eine alte Konstante seiner Politik anknüpfen: den Bedarf nach einem soliden Deutschland. Frankreich muß sich vor einem schwachen Deutschland fürchten — und nicht nur Frankreich: In der Schwäche war Deutschland am gefährlichsten; dann, wenn es beim Rettungsversuch jedes Maß verlor, und sich gesenkten Kopfes in die Suche nach einer absoluten Ordnung stürzte, die es für immer vor dem Gefühl der Unsicherheit schützen sollte.

Durch den neuen Aufriß Osteuropas gerät Deutschland in eine heikle, fragile Lage. Es sieht ganz so aus, als würde seine Position als „Frontstaat“ durch das Ende des Ost-West-Konflikts nicht etwa hinfällig, sondern anerswo fortgeführt: diesmal an der ökonomisch-sozialen Demarkationslinie, nicht mehr der politischen, militärischen und ideologischen. Die Deutschen spüren sie schon, diese neue Grenze.

Die westberliner Linke, die im Schutze ihrer Halbstadt lebte, zusammen mit ihren Utopien, den vagen Nostalgien und geborgen im bundesfinanzierten Komfort, sieht sich plötzlich mit einer Wirklichkeit konfrontiert, die man in Mailand, Madrid, Paris und New York längst kennt. Metropolis ist von der Leinwand hinuntergestiegen, die Figuren von Fritz Lang flanieren von nun an auf dem Ku'Damm, und die Proleten zeigen sich bescheiden als das was sie sind, nachdem sie die nationalsozialistischen und sozialistisch-nationalen Utopien voll ausgekostet haben — nunmehr der mythischen Klamotten entledigt, mit denen sie von den Linken herausgeputzt worden waren. Die Linke Westberlins wird in der Erinnerung als Übergangslinke bleiben, als der einzige Ort, an dem die Utopien Grenzen hatten. Jetzt muß der Vogel seine alternative „Nestwärme“ (so Raspe über die Kommune 2) verlassen.

Das Wiedersehen Berlins und Deutschlands mit der wirklichen Umwelt wird schmerzhaft bleiben. Die schwierige „Angleichung“ von 16 Millionen Ostdeutschen, der Zustrom von Rumänen, Polen, vielleicht Sowjetbürgern, stellen die Deutschen vor eine erdrückende Verantwortung: zu verhindern, daß die Mauer sich auf der Oder-Neiße-Grenze neu errichtet. Sie müssen von nun an jene „Brücke zwischen Ost und West“ offenhalten, die sich so viele herbeigewünscht haben, und zugleich vermeiden, daß die mühselige Konstruktion der EG unter dem Andrang jener Völker zusammenbricht, denen die Gemeinschaft durch ihr Beispiel mitgeholfen hat, sich zu erheben.

Die ganze Schwierigkeit liegt in der Feindosierung zwischen notwendiger Öffnung und unverzichtbarem Schutz. Wird Deutschland dazu fähig sein, wenn die wahnsinnige Einheitsdynamik seine außergewöhnliche Stabilität bedroht? Was wird geschehen, wenn zur realen Verarmungsgefahr der Noch-DDRler jene alte deutsche Furcht hinzutritt, von den Völkern des Ostens überschwemmt zu werden? Man hätte eine Situation, die Deutschland bereits kennt: einen massiven Zuzug von ausländischen Bevölkerungen, wie um 1900 in Berlin und den großen Städten, enorme soziale Probleme, wie in den Zwanzigern.

Man wird sagen, daß die Westdeutschen im Gegensatz zu den Zwanzigern vierzig Jahre Demokratie hinter sich haben — aber was, wenn dies nur eine „Schönwetter-Demokratie“ war, wie Ralf Giordano sagt? Und: Ist die wesentliche Mitgift der Ostdeutschen nicht die Erfahrung von sechzig Jahren Diktatur?

Dennoch verfügt das neue Deutschland über beträchtliche Trümpfe: die Erfahrung der Demokratie in der BRD, die Obsession seiner Finanzleute um die Stabilität der Währung, eine Wirtschaftskraft, die den Ländern des Ostens nach und nach helfen könnte, sich vor Ort aus dem Sumpf zu ziehen, und schließlich die Solidarität seiner europäischen Nachbarn, insbesondere Frankreichs. Es ist jetzt nicht mehr die Stunde der „Ängste“ und des Grolls. Die europäischen Ökonomien sind weitgehend verflochten, die Interessen der Völker in Europa gleich. Das vereinte Deutschland muß die Wette gewinnen, seine Macht mit Bescheidenheit zu handhaben, sich zu öffnen ohne abzusacken und Europa aufs neue mit sich zu ziehen. Außer zur Zeit des Deutschen Reichs, als es in der Mitte Europas als Staat genügend Anpassungsvermögen besaß, ist Deutschland bisher kaum jemals dazu in der Lage gewesen. Daß es ihm diesmal gelingt, muß jetzt von allen gewollt werden. Patrick Démerin

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