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Frontex-Info vom FrühlingRegierung hatte Flüchtlingszahlen

Frontex und das Konsulat im Kosovo warnten schon Anfang 2015 vor hohen Flüchtlingszahlen. Innenminister de Maizière gab Zahlen verspätet an die Länder weiter.

Flüchtlinge in Libyen. Foto: dpa

Berlin afp | Die Bundesregierung war einem Medienbericht zufolge schon frühzeitig vor einem deutlichen Anstieg der Flüchtlingszahl gewarnt. Demnach rechnete der Chef der EU-Grenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggeri, schon im März mit einer neuen Rekordzahl von Flüchtlingen in Europa, wie die Welt am Sonntag berichtete. „Unsere Quellen berichten uns, dass zwischen 500.000 und einer Million Migranten bereit sind, Libyen zu verlassen“, sagte Leggeri demnach im Frühjahr.

Im Juni erklärt der Frontex-Chef demnach in einer internen Sitzung des Bundestages, „dass die irregulären Grenzübertritte von der Türkei nach Griechenland im Vergleich zum Vorjahr um 550 Prozent gestiegen sind“. Die Zahl wurde dem Innenministerium und dem Kanzleramt übermittelt.

Die deutsche Vertretung im Kosovo hatte dem Bericht zufolge bereits im Februar in einer Depesche ans Auswärtige Amt gewarnt, dass „täglich 800-1000 (plus Dunkelziffer) Kosovaren“ über Serbien und Ungarn nach Deutschland unterwegs seien. Bis Ende des Jahres könnten es „300.000 Personen, d.h. ein Sechstel der Gesamtbevölkerung“ sein, zitiert das Blatt aus dem Schreiben.

Aus den Bundesländern habe es zudem schon seit dem Vorjahr regelmäßig die Forderung an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) gegeben, die Flüchtlingsprognosen zu erhöhen. Hessens Sozialministerium wies demnach die Nürnberger Behörde Mitte 2014 darauf hin, dass die Länder deutlich mehr Asylsuchende als das BAMF zählen. Im Februar 2015 rechnete das Innenministerium von Schleswig-Holstein in einem internen Schreiben an die Behörde vor, dass man von rund 590.000 Asylsuchenden im Bund in diesem Jahr ausgeht.

Erhöhte Flüchtlingsprognose spät weitergegeben

Interne E-Mails von Innenministerium und Bamf, die der Zeitung vorliegen, zeigten zudem, dass die Regierung den Ländern in diesem Sommer eine erhöhte Flüchtlingsprognose zunächst vorenthalten habe. Demnach hatte die Regierung bereits am 5. August ein Schreiben der Nürnberger Behörde vorliegen, in der sie von „geschätzten 600.000 in EASY registrierten Personen für das Jahr 2015“ ausgeht. Das Innenministerium habe jedoch zwei Wochen gewartet, bis Innenminister Thomas de Maizière (CDU) am 19. August die Schätzung offiziell auf 800.000 erhöht habe.

Die 16 Länder-Innenminister hatten Anfang August wegen stark steigender Flüchtlingszahlen vom Bund eine schnelle Erhöhung der Prognose gefordert, um entsprechende Unterbringungskapazitäten vorzubereiten Ein Sprecher des Innenministeriums erklärte dazu, zunächst hätte geklärt werden müssen, ob das Ministerium einer Umstellung bei der Prognosebasis durch das Bamf folgen sollte. Dafür sei eine „sorgfältige Prüfung und Abstimmung“ notwendig gewesen.

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5 Kommentare

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  • Das klingt ein bisschen so, als würde man der Regierung vorwerfen, sie hätte gewusst, dass bei Regen alles nass wird und niemanden vorher informiert. Wer hat für diese Weisheit noch die Vorabinfo der Frontex gebraucht?

    Haben wir nicht alle gewusst / wissen können, dass es an die 60 Mio Menschen auf der Flucht gibt? Ja, ein paar davon kommen auch hierher... richtig so!

  • Wir waren den Sommer über eben damit beschäfigt, den Griechen das letzte Hemd ausziehen und sie anschließend noch zu demütigen...

    • @robby:

      Korrekt!

       

      Zunächst musste der Gipfel der Unsolidarität durchgezogen werden, bevor man sich im September als die humanste Regierungschefin der Welt feiern lassen konnte.

      • @Urmel:

        Wundern wir uns noch, warum wir von den andern EU-Ländern nur ein müdes Lächeln ernten, wenn wir von Solidarität sprechen?

        • @robby:

          Angesichts der seit Jahren exerzierten deutschen Hegemonialpolitik wäre alles andere ein wirkliches Wunder.

           

          Jetzt ist offensichtlich das Ende der Fahnenstange erreicht. Die Forderung nach einer solidarischen Verteilung der Flüchtlinge stößt vor allem deswegen auf eine europaweite Ablehnungsfront, weil das Wort „Solidarität“ aus dem Mund deutscher Politiker bisher nur ein einziges Mal zu vernehmen war, als es nämlich galt, Banken und Finanzmarktmafiosi zu retten. Auf der anderen Seite sind es exakt dieselben deutschen Politiker, die z. B. die Massenarbeitslosigkeit vieler junger Europäer als unvermeidbaren Kollateralschaden ihrer eigenen Wirtschafts- und Sozialpolitik deklarieren.

           

          Wenn also jetzt die Merkel-Regierung von „europäischen Werten“ schwadroniert, klingt das mehr als scheinheilig und ist einer wachsenden Zahl von EU-Bürgern nicht mehr vermittelbar. Die Regierungen unserer EU-Partnerstaaten wären also „vom Wahnsinn gebissen“, wenn sie der aktuellen deutschen Aufforderung nachkommen würden – auch sie haben irgendwann Wahlen zu überstehen. Daher gibt es selbst aus den größeren EU-Ländern nur Zusagen in homöopathischen Größenordnungen: Beispielsweise sind Staaten wie Frankreich oder Großbritannien nur bereit, jährlich maximal eine Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen, die in Deutschland derzeit in ein paar Tagen eintrifft.

           

          Das Fazit ist ganz einfach: Die deutsche Gesellschaft wird die Aufnahme und Integration der Flüchtlinge weitgehend alleine schultern müssen. „Bedanken“ dürfen wir uns dafür bei unserer eigenen Regierung, die offensichtlich meinte, sie könne ungestraft einen Kurs verfolgen, der in seiner Rücksichtslosigkeit nur mit dem Aufplustern des deutschen Kaiserreiches vor dem ersten Weltkrieg vergleichbar ist.