: Frivole Erinnerungen
■ Louis Malles „Herzflimmern“ um 23 Uhr auf RTL plus
Die Öffentlichkeit reagierte heftig, als Herzflimmern 1971 in die französischen Kinos kam. Die Zensoren versuchten ein Verbot durchzusetzen, die Fernsehsender untersagten die Ausstrahlung, und die Moralisten schäumten. Der Grund dafür war eine im Halbdunkel versinkende Szene, die behutsam einen inzestuösen Liebesakt zwischen Mutter und Sohn andeutet, das heißt, mehr erahnen läßt als zeigt.
Herzflimmern spielt 1954 im gutbürgerlichen Milieu der Provinzstadt Dijon. Während der 15jährige Laurent im katholischen Gymnasium unter anderem von bigotten Priestern strenge Moralmaßstäbe eingepaukt bekommt, herrscht in seiner großen Familie ein liberaleres Klima. Der Vater ist ein wohlhabender Arzt, die Mutter relativ jung, schön und gelegentlichen Seitensprüngen nicht abgeneigt. Als sie mit Laurent in ein Sanatorium muß, weil bei ihm ein Herzfehler festgestellt wurde, hat sie ausreichend Gelegenheit zu kleinen Flirts und mehr. Auch der heranwachsende Laurent sieht sich unter den gleichaltrigen Mädchen um, zögert aber noch. Erst die gemeinsam mit seiner Mutter verbrachte Nacht, Folge von Eifersucht und einem Schwips, fühlt er sich reif genug für die erste Liebesnacht mit seiner Freundin.
Der Regisseur und Drehbuchautor Louis Malle rührte, indem er die beschriebene Initiation ausgerechnet durch Laurents Mutter vornehmen ließ, an eines der großen Tabuthemen westlicher Gesellschaften, allerdings so brav und verhalten, daß Frankreichs Filmindustrie keine Bedenken hatte, sich 1971 durch Herzflimmern beim Festival von Cannes und den Festivals in New York und San Francisco repräsentieren zu lassen. Selbst die puritanischen Amerikaner sahen keinen Grund zur Beanstandung und nominierten Malles Drehbuch für den Academy Award.
Inspiriert wurde Louis Malle - wie bei vielen seiner Filme
-durch eigene Kindheitserlebnisse. Seinen ursprünglichen Plan, Batailles Ma Mere zu verfilmen, gab schließlich Malle auf, ließ sich aber von seiner Beschäftigung mit dem Buch anregen, Skizzen und Jugenderinnerungen zu notieren, die die Grundlage für das Drehbuch zu Herzflimmern bildeten. So gibt es im Film Szenen, die tatsächlich stattgefunden haben, und es gibt erotische Träume des Adoleszenten Malle, etwa den Wunsch, mit der Mutter zu schlafen.
Herzflimmern ist demzufolge alles andere als eine präzise psychologische Studie zum Inzesttabu, sondern vielmehr eine in der Rückschau ein wenig verklärende Rekonstruktion der Jugendjahre, deren filmische Umsetzung die Erfüllung in der Wirklichkeit verweigerter Sehnsüchte im nachhinein ermöglicht. Die schelmische und zart-nostalgische Stimmung des Films, von Malle gewohnt meisterhaft in Szene gesetzt, läßt eigentlich auch gar keine andere Deutung zu, weshalb sich jede moralinsaure Kritik automatisch selbst der Dummheit bezichtigte.
Harald Keller
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen