Friedensnobelpreisträgerin Matwijtschuk: „Das Ziel des Kremls war und ist die Zerstörung der Ukraine“
Die ukrainische Friedensnobelpreisträgerin Matwijtschuk warnt vor einem ungerechten Frieden. Putins Krieg sei mehr als ein Angriff auf ihr Land.
taz: Frau Matwijtschuk, alle Augen richten sich derzeit auf den sogenannten Friedensplan, den die USA und Russland der Ukraine vorgeschlagen haben. Was halten Sie davon?
Oleksandra Matwijtschuk: Die Menschen in der Ukraine sehnen sich nach Frieden mehr als all unsere internationalen Partner, denn sie leben täglich mit der Realität des Krieges. Jedoch muss jeder Friedensplan mindestens zwei zentrale Fragen beantworten: Kann er den Krieg beenden und welche Rolle spielen die Menschen in diesem Konflikt? Der 28-Punkte-Plan gab auf diese Fragen keine Antwort.
taz: Und jetzt?
Matwijtschuk: Putin hat diesen Krieg nicht wegen Städten wie Awdijiwka oder Bachmut im Donbas begonnen. Es wäre naiv zu glauben, dass Russland Hunderttausende Soldaten für ein paar kleine Städte in der Ostukraine eingesetzt hat, die die meisten Russen nicht einmal auf der Landkarte finden würden. Das Ziel des Kremls war und ist die Zerstörung der Ukraine als Staat. Putin betrachtet die Ukraine als Brücke, um weiter voranzukommen, und sein Projekt als imperial. Ein Imperium strebt immer nach Expansion. Das ist nicht meine Interpretation, sondern dies sind die direkten Worte Putins: Die Grenzen des russischen Staates „enden nirgendwo“. Das ist kein Wahnsinn, sondern kalte Pragmatik und sein Wunsch, „Spuren in der Geschichte zu hinterlassen“. Denn Russland ist ein Imperium. Ein Imperium hat ein Zentrum, aber keine Grenzen.
taz: Wie könnte man das verhindern?
Matwijtschuk: Jeder Friedensplan muss reale Sicherheitsgarantien enthalten, die Putin klar machen, dass seine Ziele unerreichbar sind. Als Russland im Jahr 2014 die Krim und Teile des Donbass besetzte, war die Ukraine ein neutraler Staat. In der Verfassung gab es keinen Hinweis auf die Nato. Die Ukraine hatte damals keine Chance, ihre Gebiete zurückzuerobern, weshalb die Minsker Abkommen unterzeichnet wurden. Wie hat Russland diese acht Jahre genutzt? Es hat systematisch gegen die Waffenruhe verstoßen, Menschen getötet, ukrainische Männer aus den besetzten Gebieten für seine Armee mobilisiert, Militärstützpunkte errichtet, die Wirtschaft auf neue Sanktionen vorbereitet, Munition gehortet und schließlich eine Vollinvasion gestartet.
taz: Sollte Russland die Kontrolle über die derzeit besetzten Gebiete der Ukraine behalten, was würde dies für die Menschen dort bedeuten?
Matwijtschuk: Dieser Plan lässt Millionen von Menschen in einer Grauzone zurück, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, ihr Leben, ihre Kinder, ihre Rechte und ihr Eigentum zu schützen. Gleichzeitig bietet er keine Hilfen und spricht dieses Thema nicht einmal an. Unser Leben besteht nicht nur aus Geopolitik, sondern vor allem aus menschlichen Schicksalen. Auch die russische Besatzung ist ein Krieg, nur das Leid wird dabei unsichtbar. Menschen im Ausland können sich oft nicht vorstellen, dass es sich nicht nur um einen Flaggenwechsel handelt. Entführungen, Folter, Vergewaltigungen, die Zerstörung der Identität, die Zwangsadoption ukrainischer Kinder, Infiltrationslager und Massengräber – das ist die Realität der Besatzung.
taz: Der aktuelle Plan sieht auch eine umfassende Amnestie für beide Seiten vor. Sie und Ihre Organisation Center for Civil Liberties arbeiten seit fast zwölf Jahren mit Opfern von Kriegsverbrechen. Wie wird sich eine Amnestie für Russland auf diese Menschen und ihre Angehörigen auswirken?
Matwijtschuk: Dieser Punkt sollte nicht in einem Friedensplan enthalten sein. Welches Signal sendet man damit? Dass man als Staatschef mit starkem militärischem Potenzial und Atomwaffen alles tun kann, was man will? In andere Länder einmarschieren, Grenzen mit Gewalt verändern, Menschen töten, Kinder entführen – und dafür keine Verantwortung tragen soll? Wenn Russland das erlaubt wird, warum sollten dann andere Staaten nicht dasselbe tun? So etwas untergräbt das ohnehin schon labile globale Gleichgewicht. Eine Welt, in der das Recht des Stärkeren gilt, ist eine Welt voller Kriege und massiver Gewalt.
taz: In Deutschland wird oft geäußert, dass ein Jahr Frieden besser sei als ein Jahr Krieg. Was sagen Sie dazu?
Matwijtschuk: Die Ukrainer wünschen sich Frieden, lehnen jedoch eine russische Besatzung ab. Für uns ist Freiheit nicht nur Selbstverwirklichung, sondern bedeutet Überleben. Diejenigen, die der Ukraine raten, ihren Widerstand aufzugeben, würden selbst niemals unter russischer Besatzung leben wollen. Sie würden nicht um fünf Uhr morgens aufwachen wollen, weil die Geheimdienste zu ihnen kommen. Sie wollen nicht erleben, wie ihr Haus auf den Kopf gestellt wird, ihre Frau vor ihren Augen vergewaltigt werden, wie ihr Mann zum Folterverhör abgeführt wird und ihre Kinder in ein Militärlager geschickt werden, um sie zu Putins zukünftigen Soldaten auszubilden. Würden andere Europäer so kämpfen wie die Ukrainer? Denn viele Europäer haben ihre Freiheit von ihren Urgroßvätern geerbt – sie selbst haben nicht dafür gekämpft. Aus dieser pragmatischen Sicht würde ich an ihrer Stelle die Ukraine mit aller Kraft unterstützen. Denn Putin wird nur dann aufhören, wenn man ihn aufhält.
taz: Derzeit erschüttert ein heftiger Korruptionsskandal die Ukraine. Kann Demokratie im Kriegszustand überhaupt funktionieren?
Matwijtschuk: Die Ukraine ist ein Land im Transit. Wir hatten nicht den Luxus, demokratische Institutionen in Friedenszeiten aufzubauen. Nach der Revolution der Würde im Jahr 2014 wurden diese Institutionen unter Kriegsbedingungen geschaffen. Was den jüngsten Korruptionsskandal betrifft, so war ich, wie viele andere Ukrainer zutiefst empört. Die Menschen spenden ihr letztes Geld für die Armee, für Verwundete und für diejenigen, die ihr Zuhause verloren haben. Zu erfahren, dass jemand im Krieg seine Macht zum eigenen Vorteil missbraucht, ist schmerzlich. Pragmatisch betrachtet gibt es solche Menschen jedoch in jedem Land.
taz: Und wie reagiert der Staat?
Matwijtschuk: Die Antikorruptionsbehörden haben den Skandal aufgedeckt und Verhaftungen sowie Gerichtsverfahren initiiert. Vor zwölf Jahren war so etwas noch unvorstellbar, denn damals waren die „Unantastbaren“ tatsächlich unantastbar. Dies wurde von Menschen ermöglicht, die im vergangenen Sommer auf die Straße gingen, als das Parlament versuchte, die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden einzuschränken. Trotz Raketen und Drohnen setzten sich die Ukrainer für Reformen ein und zwangen das Parlament, das Gesetz neu zu verabschieden. Dies ist ein Zeichen von Stärke, nicht von Schwäche.
taz: Sie sind Juristin und Menschenrechtlerin. Gerade erleben wir, wie das Völkerrecht enorm verletzt und ignoriert wird. Was motiviert Sie, trotzdem weiterzumachen?
Matwijtschuk: Leider ist es nicht das erste Mal in der Geschichte, dass das Recht nicht greift. Doch ich habe Hoffnung. Ein Beispiel sind für mich die Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Nürnberger Prozesse, die Gründung der Vereinten Nationen, die Durchsetzung humanistischer Prinzipien wie Menschenrechte oder die Unabhängigkeit der Justiz. Und zum anderen glaube ich, dass wir eine Chance haben, und dies ist ein großer Luxus. Generationen von Ukrainern haben vor uns im Untergrund für die Freiheit gekämpft, ohne internationale Unterstützung und ohne institutionelle Rückendeckung. Wir sind nur deshalb am Leben, weil sie selbst unter scheinbar hoffnungslosen Bedingungen nicht aufgegeben haben.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
taz: Der Winter ist da und Russland bombardiert wieder verstärkt Kraftwerke und Energieversorger in der Ukraine. Wie leben Sie in Kyjiw?
Matwijtschuk: Die Situation ist schwierig. Millionen Menschen könnten den Winter ohne Heizung und Strom verbringen. Alle müssen Lösungen für alltägliche Dinge suchen, beispielsweise, wie man Milch für sein kleines Kind erwärmt. Wir erwarten einen schwierigen Winter, unabhängig davon, wie diese Friedensverhandlungen ausgehen werden.
taz: Worauf hoffen Sie?
Matwijtschuk: Ich weiß nicht, wie mein persönliches Schicksal aussehen wird – Krieg ist immer ein Glücksspiel. Ich lebe in Kyjiw, und alles ist möglich. Putin möchte uns in die Vergangenheit zurückversetzen, doch die Zukunft wird trotzdem kommen. Sie ist unausweichlich.
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert