: Friedensdeutschland
■ Egon Bahrs Plädoyer für die Entprovinzialisierung deutscher Politik
Sich ausdrücklich vom harten Wahlkampf absetzend, ein in ruhigen Bestimmungen fortschreitender Vortrag Egon Bahrs Donnerstag abend. In der Humboldt-Universität. Der Ausgangspunkt: Die Folgen des 9. November - als „elementares Ereignis“, das „nicht revidierbar“ sei - bedeuteten vor allem eine elementare Veränderung dahingehend, daß mit der vollen Freizügigkeit nun „im Grunde die Einheit Zwang geworden und unaufhaltbar“ sei als Einheit eines Staates, um dessen Teilung herum jedoch die ganze Nachkriegsordnung in Europa geordnet worden ist.
Bahr hält sich nicht auf und nennt die Punkte, bezüglich derer die kommende Entwicklung in geordneten Bahnen zu verlaufen hätte. Erstens: Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Zweitens die staatsrechtlichen, drittens die völkerrechtlichen Fragen. Und wenn schon eine Diskussion um Artikel 23 - für den Bahr sich derzeit ausdrücklich nicht interessierte -, dann muß vorher der „völkerrechtliche Rahmen geklärt werden, in dem das geschehen soll“. Ebenso ausdrücklich die Einräumung der Meinung aller Nachbarn zur Frage, „in welche Art von gebundener Freiheit“ dieses Deutschland entlassen werde. „Alle unsere Nachbarn waren zufrieden mit der Teilung„; nun stehe die Aufgabe: „Wie kann ich es machen, daß sie zufrieden mit der Einheit sind?“ So forderte Bahr eine „Zieldefinition“ bis Ende dieses Jahres über ein „europäisches kollektives Sicherheitssystem“, das „unterschriftsreif als Vertrag 1992 im März vor uns liegt, wenn wir die zweite Helsinkikonferenz haben werden, wie geplant.“
Dabei verbleiben bis zur neuen europäischen Sicherheitsstruktur, so Bahr, Bundeswehr und NVA in den Bündnissen. „Ich habe davor überhaupt keine Angst, wenn ich weiß, daß das März '92 ein Ende hat.“ Hinsichtlich des zu schaffenden europäischen kollektiven Sicherheitssystems hielt Bahr dies bis 1992 schon vom Atlantik bis zum Ural für unwahrscheinlich, jedoch die Möglichkeit des Beginns damit bei jener zur Zeit in Wien verhandelten „erweiterten zentraleuropäischen Region“ (mit Dänemark, Benelux, CSR, Ungarn, Polen, beiden Deutschlands) für gegeben. Dann würde deren Ausdehnung folgen können.
Wenn zuletzt das System faktisch voll eingeführt wäre, dann wären unter anderem auch keine fremden Truppen mehr auf dem Boden fremder Staaten, mit der Ausnahme eines breiten internationalen Kontrollnetzes.
Darauf kam Bahr alles an: Deutschland erhält die „phantastische Chance zum Ende dieses Jahrhunderts“, im Grunde der „geographische Kern der europäischen Sicherheit“ zu werden. Und Bahr, das weiß man, wird zu seinem gewichtigen Wort zu stehen wissen.
Olaf Thomsen
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