Freudenfeste: Hitler, Mandela, Mauerfall
Es gibt Augenblicke der Freude, die bleiben eingebrannt in die Erinnerung. Mandelas Besuch in Deutschland etwa. Oder auch der Tag, an dem Hitler starb.
Das bleibt im Gedächtnis, nicht wahr, wie Südafrika den Pater Patriae nach seinem Tod mit Gesängen und Tänzen ehrte. Es taucht dazu ein ehrwürdiges Wort auf, Lobpreis, und es fiel unsereinem leicht, sich von den Fernsehbildern zu Tränen rühren zu lassen. Lobpreis im Todesfall zeigt bei uns die Form einer streng vorgetragenen Laudatio, darauf folgt Kammermusik.
Ich habe Nelson Mandela mal selbst erlebt. Es muss 1996 gewesen sein. Der Präsident absolvierte eine Deutschlandtour, und an diesem Abend eröffnete er in der Berliner Kongresshalle, Haus der Kulturen der Welt, eine Ausstellung mit südafrikanischer Kunst.
Gewiss gab es Reden. Was sich aber vor allem dem Gedächtnis einprägte: Der schöne alte Mann auf der Bühne nahm inmitten seiner Entourage mit selbstverständlicher Anmut an einem Tanzen teil. Und dazu gehörte, dass das Publikum, zweitausend sozial durchtrainierte Kulturbürger, sich hemmungslos Rührungs- und Begeisterungstränen überließ.
Die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 erlebte ich in Hamburg, am Ufer der Binnenalster, bilde ich mir ein, ein warmer Herbstabend. Die öffentlichen Reden verfolgte man – meine ich mich zu erinnern – als Projektion auf einer Großleinwand, pflichtschuldig, neutral, ein Zeremoniell. Was wirklich Hochgefühl erregte, war das prachtvolle Feuerwerk.
In deutschen Angelegenheiten ein großes öffentliches Freudenfest zu feiern, fällt schwer. Die Exaltation muss spontan erfolgen und persönlich bleiben. Wer dabei war, erinnert sich herzlich an die ekstatischen Massen, die am 9. November 1989 von hüben nach drüben und zurück strömten.
Die Ausgabe zum 24. Dezember: „Feiert!“ Berichte und Reportagen aus Familiärem, aus Sotschi, St. Pauli, dem Prenzlauer Berg, aus der Kulturwissenschaft, von Adorno & Penelope, zu Ritualen und über einen Onkel, der seine Erbschaft verjubelt. AutorInnen wie Sonja Vogel, Peter Unfried, Nina Apin, Manuel Schubert, Julia Niemann, Michael Rutschky, Kim Trau, Bruce LaBruce, Antje Basedow, Martin Schulz – und Ursula von der Leyen. Ab Dienstag am Kiosk oder direkt am eKiosk.
Unmutsäußerungen und Protest
Ich war nicht dabei, aber später, als am Potsdamer Platz die ersten Mauerteile entfernt wurden, flossen auch meine Tränen. Und als man das erste Mal durchs eben geöffnete Brandenburger Tor spazierte! Bei der offiziellen Kundgebung vorm Schöneberger Rathaus dagegen kam es sogar zu Unmutsäußerungen und Protest.
Bekanntlich fand am 8. Mai 1945 in Deutschland kein öffentliches Freudenfest statt. Wer ihn erlebte, konnte immer wieder davon erzählen, welch strahlend schöner Frühling sich ereignete, als das Dritte Reich unterging, Sommerwärme, immerwährender Sonnenschein, Blütenmeere, als übernähme die Natur das Feiern.
Konrad Figlarek, der lange eine bedeutende Werbeagentur geleitet hat, erzählte mir, wie er, als Funker in Jugoslawien stationiert, am 30. April 1945 einen italienischen Sender abhörte und die Botschaft empfing: Hitler e morto. Sofort verließ er seine Geräte, tanzte durch ein blumenbedecktes Feld, über das massenhaft Schmetterlinge flatterten, und sang unterbrochen vor sich hin: Hitler e morto, Hitler e morto, Hitler e morto. So erinnerte er bis an sein Lebensende sein persönliches Freudenfest zum Untergang.
Komischer Schnurrbart
Vermutlich haben uns die Nazis mit ihren megalomanen Veranstaltungen das Genre des politischen Fests überhaupt verdorben. Wer in Nürnberg die Reste des Parteitagsgeländes besichtigt, hat Mühe, diese Bühne nicht einfach lächerlich zu finden.
Es ging doch bloß um die Ornamente der Massen, wie die alten Wochenschaubilder lehren (die man heutzutage mindestens einmal am Tag im TV zu sehen bekommt). Und den unbedingten Willen zur Macht, jenseits von Gut und Böse, verkörperte dieser Mann mit dem albernen Schnurrbart und dem formlosen Körper, linkisch, ältlich, der seine Reden schimpfend und brüllend hielt, was nach seinem Untergang als Ausdruck besonders stählerner Entschlossenheit sofort zerfiel.
Wie der Sedantag genauer aussah – an dem das wilhelminische Reich seinen Sieg über Frankreich jedes Jahr am 2. September triumphal feierte – ich habe keine Vorstellung. Aber der Wilhelminismus insgesamt arbeitete ja, was Ostentation des Willens zur Macht betrifft, dem Dritten Reich entgegen; schon der zweite Wilhelm, pflegte mein Vater zu spotten, hatte so einen komischen Schnurrbart.
Der Kaiser und sein Arm
Und den allzu entschlossen demonstrierten Willen zur Macht, die berüchtigte deutsche Großmannssucht verkörperte auch hier ein invalider Mann. Der linke Arm des Kaisers hing lahm herab und musste auf dem Rücken oder auf dem Bauch oder auf dem Schwertknauf fixiert werden, damit er den Protz der Uniform und des Helmbuschs und des Reitpferdes nicht dementiere. (Es fällt auf, dass der Kaiser in aktuellen TV- und Kinofilmen stets ohne das Manko erscheint.)
Über die psychischen Folgen des lahmen Kaiserarms ist viel spekuliert worden. Die Ostentation, die exaltierte Festlichkeit der staatlichen Selbstdarstellung – heißt es – sollte die Invalidität des Oberhäuptlings kompensieren. Tschingdarassabumm. Auch dies politische Feiern war gewissermaßen hohl und leer, reine Gestik, und deshalb verräterisch laut und prächtig.
Die Bundesrepublik erkor sich den 17. Juni zum Nationalfeiertag. Da hatte die Bevölkerung des anderen, des Arbeiter- und Bauernstaats massenhaft gegen denselben rebelliert, und die Bundesregierung interpretierte das als unmissverständliche Bekundung des ostdeutschen Willens zur Wiedervereinigung, dem die Bundesregierung ja ebenso folge.
Es gab regelmäßige Feierstunden, bei denen prominente Redner diesen heißen Willen beschworen und „Pankow“ – wie die DDR bei uns metonymisch hieß – sowie „Moskau“ dafür anklagte, dass sie die Wiedervereinigung verweigerten.
Peinliche Zeromonien
Der junge Mensch, der ich einst war, und die Community der jungen Menschen, zu der ich damals gehörte, hasste und verachtete diese politischen Feierstunden. Zum einen erscheint dem jungen Menschen eine solche Zeremonie bloß als eine weitere dieser Peinlichkeiten, mit denen sich Eltern und die anderen sogenannten Erwachsenen ununterbrochen blamieren. Am besten, man schaut gar nicht hin. Was immer sie bei solchen Zeremonien vorführen, die Reden, das Streichquartett, der Chorgesang, sie erscheinen falsch, unecht, gespielt.
Zum anderen vermochte die Community, zu der ich als junger Mensch gehörte, beim besten Willen nicht zu erkennen, wie die Politik der Bundesregierung die Wiedervereinigung fördern, die SU zum Verzicht auf ihre DDR bewegen könnte. Und offiziell ging es ja über die DDR hinaus um Gebiete, die inzwischen Polen gehörten. Die juvenile Abscheu, die grundsätzlich offizielle Zeremonien und Rituale entzünden, erregte hier also zusätzlich eine Politik, die tatsächlich bloß aus Ritualen bestand.
Niemand in „Bonn“ wird ernsthaft geglaubt haben, dass die Sowjetunion die DDR und die ehemals deutschen Ostgebiete uns freiwillig und freudig übereignen würde. Mit seiner Abscheu antizipierte der junge Mensch die Ost- und Entspannungspolitik, welche der Bundeskanzler Willy Brandt zehn Jahre später verfolgen würde.
An dieser Feierstunde zum 17. Juni 1961 nahm ich selber offiziell teil, als gewählter Schulsprecher des Gymnasiums. Neben mir saß M., die Chefredakteurin der Schülerzeitung. Die Wiedervereinigungspredigt hielt diesmal ein (eher links-)sozialdemokratischer Professor, der später zum Oberbürgermeister von Frankfurt am Main avancierte.
Das Publikum hatte sich zu erheben
Ihren Höhepunkt erreichte die zeremonielle Wiedervereinigungsbeschwörung – wie gesagt: Wir wollten auch die Gebiete jenseits von Oder und Neiße, inzwischen polnisch, zurückerstattet bekommen – im Absingen der Nationalhymne, der dritten Strophe des Deutschlandliedes, Einigkeit und Recht und Freiheit. Zu diesem Zweck hatte das Publikum sich zu erheben, um die Erhabenheit der Nation zu bezeugen.
Aber M., die Chefredakteurin, und ich, der Schulsprecher, blieben sitzen, so schwer hatte die politische Feier sie angekotzt. Und Sie können sich vorstellen, welchen Skandal das auslöste. Er übertraf an Wallungswert bei weitem die Feier selbst, ein interessantes Schema. Aber doch sehr, sehr, sehr weit entfernt vom Singen und Tanzen zum Lobpreis von Nelson Mandela, dem Pater Patriae Südafrikas.
Michael Rutschky, 70, verbringt den Heiligabend bei einem Dinner mit Freunden; am zweiten Weihnachtstag veranstaltet er selber eines, mit denselben. Dazwischen Spaziergänge mit dem Hund, viel Lesen und das gewohnte Kritzeln.
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