: Freiheit und Brot
■ Ein offener Brief von Hans Christoph Buch an Christoph Hein
Lieber
Christoph Hein,
vor kurzem kehrte ich von einer Gastprofessur in Kalifornien zurück, wo ich mit amerikanischen Studenten unter anderem ihren Roman Drachenblut gelesen und diskutiert habe. Es gehört zu den Paradoxien unseres Literaturbetriebs, daß man das Naheliegende erst aus der Ferne wahrnimmt, und so bedurfte es einer Einladung in die USA, damit ich Ihre in den achtziger Jahren erschienenen Bücher las, aus denen meine Studenten und ich eine Menge gelernt haben. In diesen Büchern, so schien es uns rückblickend, haben Sie die Risse im Fundament des realexistierenden Sozialismus mit seismographischer Empfindlichkeit registriert, und, vielleicht ohne es zu wissen, den Zusammenbruch der Berliner Mauer vorausgesagt. (Ähnliches gilt, nebenbei gesagt, auch für die letzten Bücher von Christa Wolf, von Kassandra bis Was bleibt, die einen Abgesang auf die DDR darstellen: fast alles, was westliche Kritiker ihr später vorwarfen, hat Christa Wolf in diesen Texten selbstkritisch vorweggenommen.) Claudia, die Heldin Ihres Romans Drachenblut, erfährt diesen Desillusionsprozeß am eigenen Leib: ihre Unfähigkeit, sich persönlich zu engagieren, zu lieben oder zu trauern, stellt der Gesellschaft, in der sie lebt, das denkbar schlechteste Zeugnis aus. Claudias Gefühlskälte, meinte eine meiner Studentinnen, sei darauf zurückzuführen, daß die DDR vierzig Jahre lang tiefgefroren gewesen sei; anstatt sie langsam aufzutauen, habe Helmut Kohl sie in den Mikrowellenherd geschoben — die Ergebnisse dieser Schocktherapie sind bekannt. Ein Student schrieb, Claudias Probleme seien auf sexuelle Unbefriedigtheit zurückzuführen; anstatt sich von kommunistischen Kettenrauchern und Alkoholikern tyrannisieren zu lassen, solle sie es lieber mal mit einem Amerikaner versuchen, der wie Rambo männlich und doch sensibel sei. Dagegen meinte eine Studentin, Rambo sei eine Versager im Bett, und die kapitalistischen Chauvis seien auch nicht besser als die in der ehemaligen DDR. Sie sehen, lieber Christoph Hein, Ihr Roman bietet vielfältige Interpretationsmöglichkeiten, und wie stets erwächst die Allgemeingültigkeit des Textes aus der konkreten Besonderheit von Zeit und Ort.
Sie hatten einen Fan an mir, und mit entsprechender Erwartung schlug ich auf dem Rückflug nach Deutschland den 'Spiegel‘ auf, um zu lesen, was Sie zu dem uns alle bedrängenden Problem der Ausländerfeindlichkeit zu sagen hatten. Meine Erwartung wurde enttäuscht, ja mehr als das: ich war entsetzt über den Mangel an Sensibilität und Solidarität, der in ihren Ausführungen zu Tage tritt: als hätten Sie die Neugier, die Ihrer kritischen Bestandsaufnahme der DDR-Gesellschaft zugrunde lag, bei näherer Bekanntschaft mit dem Westen ad acta gelegt und statt dessen aus der Mottenkiste der SED-Propaganda ein Feindbild hervorgekramt, das so abgegriffen ist, daß sein Gebrauchswert gegen Null tendiert: Money rules — Geld beherrscht die Welt. Der derzeit nicht nur in Deutschland grassierende Ausländerhaß wird von Ihnen auf den ökonomischen Gegensatz von Erster und Dritter Welt reduziert: nach dem Einsturz der Mauer aus Beton, sagen Sie, hätten die reichen Länder Europas und Nordamerikas eine Mauer aus Geld errichtet, um sich vor dem Ansturm der Armen aus der Dritten Welt zu schützen, auf deren Kosten der satte Westen angeblich lebt. Natürlich erhält dieses antikapitalistische Feindbild, wie alle Klischees, ein Körnchen Wahrheit, z.B. in Ihrer Weigerung, zwischen Wirtschaftsemigranten und politischen Flüchtlingen zu unterscheiden; aber das Fatale ist, daß sich Ihre Argumentation, abgesehen von der marxistischen Begründung, in der Konsequenz von rechter Ausländerfeindlichkeit kaum noch unterscheidet. Da an der ungerechten Weltwirtschaft, d.h. an der Ausbeutung der Dritten durch die Erste Welt, Ihrer Meinung nach nichts zu ändern ist, hat es keinen Zweck, sich über Ausschreitungen von Neonazis und Skinheads zu empören, die sich dagegen wehren, ihren bescheidenen Anteil am westlichen Wohlstandskuchen zu teilen mit Asylbewerbern aus Asien und Afrika: „Wir verfolgen euch nicht, weil ihr Ausländer seid. Auch in unseren Ländern steht der reichere Norden oder Westen gegen den ärmeren Süden oder Osten. Und wenn dieser Kampf weniger brutal ist, dann nur, weil das Wohlstandsgefälle weniger brutal ist.“ Spätestens hier wird klar, daß überall dort, wo in Ihrem Text von Erster und Dritter Welt die Rede ist, die alten und neuen Bundesländer gemeint sind. Ich habe nichts dagegen, lieber Christoph Hein, wenn ein Schriftsteller aus der ehemaligen DDR den bundesdeutschen Besserwessis die Leviten liest, deren Arroganz mich genauso stört wie die Larmoyanz vieler Ossis: der Zusammenstoß von westlicher Selbstgerechtigkeit mit östlichem Selbstmitleid erzeugt ein schepperndes Geräusch wie Blechschäden auf der Autobahn. Aber was mich noch mehr stört, ist der auch bei Ihnen zu beobachtende Hang, deutsche Querelen zu Weltproblemen aufzublähen und den Nordsüdkonflikt dem Ostwestkonflikt überzustülpen. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich bin einer der wenigen deutschen Schriftsteller, die sich seit vielen Jahren literarisch — und nicht bloß rhetorisch und demagogisch — mit der Dritten Welt beschäftigen: Ich habe lange Zeit in Haiti verbracht, einem der ärmsten Länder der sogenannten Vierten Welt, und mehrere Bücher darüber veröffentlicht. Und ich werde den Verdacht nicht los, daß gerade die Intellektuellen der ehemaligen DDR, die plötzlich die Dritte Welt im Munde führen, sich am wenigsten für deren Belange interessieren: der Hinweis auf den Hunger in Afrika und die Säuglingssterblichkeit in Lateinamerika dient Ihnen als jederzeit abrufbares Zitat, mit dem ihr ideologischer Bankrott kaschiert und die moralische Verkommenheit des Westens bewiesen werden soll; das real existierende Elend der Dritten Welt wird beschworen, um abzulenken vom Elend des realen Sozialismus in der DDR. Das ist genauso unanständig wie die Instrumentalisierung von Auschwitz im innerdeutschen Meinungsstreit.
Die Reduktion des Menschen zur ökonomischen Statistik, die Sie in Ihrem Artikel vornehmen, wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Der Ausländerfeindlichkeit hilft sie ebensowenig ab wie den sozialen und psychologischen Konflikten, die sich aus dem Zusammenstoß unterschiedlicher kultureller Lebenswirklichkeiten ergeben. Hinter Ihrem radikalen Zugriff, lieber Christoph Hein, steht die fatale deutsche Tradition des alles oder nichts, die den Wirrwarr der Wirklichkeit auf einen einzigen Hauptwiderspruch reduziert und, wie Charlie Chaplin beim Kofferpacken, Ärmel und Hosenbeine einfach abschneidet — eine totalitäre Tendenz, die bei den Vollstreckern der Marxschen Theorie zu verheerenden Konsequenzen geführt hat. Der Satz „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ hat mehr Unheil angerichtet als Gutes bewirkt — abgesehen davon, daß Brechts kaltschnäuziger Materialismus so nicht stimmt: sonst hätten nicht Millionen von Menschen in Haiti, Äthiopien und anderswo mit leeren Mägen für die Wiedereinführung der Demokratie gekämpft. Freiheit oder Brot war schon zu Zeiten Robespierres eine falsche Alternative: Freiheit und Brot heißt die politisch korrekte Formulierung.
Aber ich will hier nicht einer politischen Korrektheit das Wort reden, die derzeit an linken Literaturdepartments in Kalifornien propagiert wird, wo, wiederum unter Berufung auf die Dritte Welt, Literatur von toten weißen Männern aus dem Curriculum gestrichen werden soll. Der Kronzeuge dieser revolutionären Literaturtheorie heißt ausgerechnet Heiner Müller, der angeblich die Abschaffung des Autors vorgedacht hat, obwohl auch er, genauso wie Sie und ich, eines Tages ein toter weißer Mann sein wird. Ein solches Tabula rasa-Denken ist doppelt absurd an der Westküste der USA, wo die europäische Kultur, die über Bord geworfen werden soll, überhaupt erst an Bord gebracht werden muß. Aber ich will Sie nicht mit akademischen Absurditäten langweilen.
Warum schreibe ich Ihnen das alles, lieber Christoph Hein? Weil ich die Hoffnung hege, daß das, was Sie im 'Spiegel‘ veröffentlicht haben, nicht Ihr letztes Wort in Sachen Ausländerfeindlichkeit ist, und daß zwischen ost- und westdeutschen Autoren ein Gedankenaustausch möglich ist, der sich nicht in wechselseitigen Beschimpfungsritualen erschöpft. Wie sollen von Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg bedrohte Bürger der alten und neuen Bundesländer mit Asylbewerbern zurechtkommen, wenn nicht einmal die Schriftsteller mehr miteinander reden?
Freundliche GrüßeHans Christoph Buch
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen