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Freiheit In keinem Bundesland leben so wenige Einwohner pro Quadratkilometer wie in Mecklenburg-Vorpommern. 20 gute Gründe, die Ödnis zu liebenLob der Leere

1Hier gibt es Gärten, die so groß sind, dass man mit dem Trecker hineinfahren kann. Will man Obst vom Baum ernten, stellt man sich in die Frontladerschaufel, lässt die Traktoristin den Hebel zum Hochfahren drücken und pflückt gemütlich alle Kirschen ab, an die kein Kleingartenbesitzer je herankommen würde.

2Wenn man die Sommerferien im überhitzten VW-Bus auf den Autobahnen in Hessen und Baden-Württemberg verbringt, wo sich Stau an Stau reiht und das Kleinkind schreit, träumt man sich auf die A20 zwischen Bad Sülze und Tessin: Weite, menschenleere Straßen, Freiheit.

3In die einzigen Kneipe des Ortes kann man auch gehen, wenn man schon seit zwanzig Jahren woanders wohnt – man trifft garantiert jemanden, den man kennt.

462 Prozent landwirtschaftliche Nutzfläche. Das bedeutet: Genug zu essen im Katastrophenfall. Zumindest Maiskolben, in Rapsöl gebraten.

5Nirgends kann man so gut einschlafen wie hier. Vereinzelt knattert ein Auto über die Landstraße. Etwas raschelt in der Hecke. Die Blätter knistern. Ein Käuzchen heult auf dem Hof. Irgendwo prügeln sich Katzen. Fauchen, schreien. Das Wasserrohr gluckert. Zehn Stunden Schlaf.

6Ein Abend auf dem Sofa in Berlin ist ein Abend tausender vertaner Möglichkeiten. Ein Abend auf dem Sofa in Zahrensdorf ist einfach ein Abend auf dem Sofa.

7Keine Leuchtreklame, keine kollidierenden Geburtstagspartys, kein Wi-Fi. Aufatmen, sobald man in Barth aus dem Zug steigt. Hier beginnt die mentale Fastenkur. Der Kopf kann sich leeren, denn es gibt ja nichts, um ihn zu füllen.

8Während im dichter besiedelten Sachsen ein einziger ausgebrochener Nandu diesen Sommer bereits Panik ausgelöst hat und in einer polizeilichen Überreaktion erschossen wurde, hat sich im Mecklenburgischen bereits vor zehn Jahren eine ganze Bande der Laufvögel selbstständig gemacht. Über hundert von ihnen streifen durchs Land, gedeihen und vermehren sich prächtig.

92.000 Biber! 60.000 Kraniche im Herbst und Frühling! Und achtzig der letzten hundert Schreiadler Deutschlands.

10In ein altes Schulhaus, das wegen des Bevölkerungsrückgangs geschlossen wurde, stellt man ein paar ausrangierte Klappsesselreihen und einen Beamer. Fertig ist das Kino. Garantiert voll bei jeder Filmvorführung.

1115 Kilometer von der Landeshauptstadt entfernt kann man sich stundenlang im Wald verlaufen, ohne eine Straße zu finden.

12Mit dem letzten Bus am Abend nach Hause fahren und sich wie eine wertvolle Fracht fühlen, weil der Bus nur für dich fährt.

13Begegnungen, die es in den Nischen der Großstadt nie geben würde: Mit der Nachbarin, die heute kein Unkraut im Garten zupfen kann, weil der Bauch schmerzt, ein Gläschen Korn am Küchentisch trinken – und über die alte Heimat, die Flucht und die Ankunft auf Rügen im Winter 1945 reden. Die Wanduhr tickt dazu.

14Bei guter Sicht, sagen manche, könne man bis nach Polen schauen.

15Tröpfcheninfektionen werden mit zunehmender Kilometerdistanz zwischen den Bewohnern unwahrscheinlicher. Möglicherweise der Grund, warum die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern laut der Deutschen Krankenversicherung die gesündesten Deutschen sind.

16Viel Platz für Zelte plus wenig Menschen, die die Polizei rufen könnten, ist gleich: so viele Festivals wie nirgendwo sonst in Deutschland.

17Viel Platz für Windanlagen plus wenig Menschen, die sich darüber aufregen können, ist gleich: ein so hoher Anteil erneuerbarer Energien wie nirgends sonst.

18Wenn der Schulweg mit dem Bus eineinhalb Stunden dauert, ist das ein Nachteil. Wenn der Bus im verschneiten Winter nicht kommt und man deswegen ganz offiziell nicht zur Schule muss, ist es ein Vorteil.

19Morgens, auf dem Nachhauseweg von der Strandparty, nackt in der Ostsee baden, und niemand schaut zu.

20Die Ärztin hatte eine Kehlkopfentzündung diagnostiziert und Sprechverbot erteilt. Ihr Rat: aufs Land fahren, dorthin, wo die wenigen Menschen, die es da überhaupt gibt, als maulfaul gelten. In einer Gegend, in der die Straßen Stadtweg, Weidehof, Am Himmel oder Betonstraße heißen, gibt es wenig Anlass zu sprechen. Früh­abendlicher Ostseenebel, Wasservögel, die federrauschend abheben, Reaktorblöcke eines alten Atomkraftwerks am Horizont. Schweigen.

Anna Grieben, Julia Boek, Benno Schirrmeister, Tim Seidel, Stefanie Unsleber, Fabian Rasem, Andrea Kaden und Luise Strothmann

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