: Freie proben den Aufstand bei der „Berliner Zeitung“
■ Aktion von freien Mitarbeitern im Verlag gegen die Kürzung von Honoraren / Chefredaktion will Gespräch / IG Medien: Zeitungskrieg fordert Einsparungen
Zwischenmahlzeit bei der Berliner Zeitung: Rund zwanzig freie Mitarbeiter marschierten gestern durch die Flure des Redaktionsgebäudes in der Karl-Liebknecht- Straße und drückten den verdutzten Mitarbeitern neben Flugblättern Äpfel und Eier in die Hand. Auch Herausgeber Erich Böhme, der sich um 12 Uhr gerade zur Ressortleiterkonferenz eingefunden hatte, erhielt seinen Obolus. Mit ihrer Aktion, die von der IG Medien unterstützt wurde, protestierten die Freien gegen die jüngste Sparpolitik des Hauses. Für einen „Appel und ein Ei“ wollten sie nicht länger arbeiten, so ihr Kommentar zu den neuen Honorarsätzen, die seit dem 1. Februar in Kraft sind. Chefredakteur Hans Eggert nahm die Aktion gelassen auf und versprach, die Kürzungen demnächst auf einem Treffen mit den Freien zu „erläutern“.
Nach der neuen Hausordnung werden etwa Interviews in der Berliner Hauptausgabe statt wie bislang mit 1,92 Mark pro Zeile nur noch mit 1,41 Mark vergütet. Bei Reportagen, Gerichtsberichten, Spitzen, Glossen, Kommentaren und Kritiken zeigte sich die Geschäftsleitung zurückhaltender: Hier fließen pro Zeile künftig nur noch 1,80 statt bislang 1,92 Mark. Auch die Regionalausgaben, deren Honorare unter denen der Berliner Zentrale liegen, zahlen bei Interviews weniger. Die Streichungen hätten wohl nicht die Reaktion der Freien herausgefordert, wäre nicht auch noch die kürzlich durchgeführte Layout-Reform des Blattes dazwischengekommen: Nun sind die Zeilen zwar länger, die Artikel insgesamt aber kürzer.
Die einstige SED-Zeitung, die nach der Wende vom Mediengiganten Gruner & Jahr übernommen wurde, schippert auf unruhiger See. Verlagsleiter Lutz Jarosch wird das Blatt Ende März wegen „unterschiedlicher Auffassungen über die Geschäftspolitik“ mit dem Geschäftsführer Christian Nienhaus verlassen, verkündete der Verlag erst am Montag dieser Woche. Derzeit bietet die Berliner Zeitung ein höchst widersprüchliches Bild: Zwar konnte sie ihren Brutto-Werbeumsatz, so das renommierte Marketingfachblatt Horizont, von 61,3 Millionen Mark vor zwei Jahren auf 75,6 Millionen Mark 1993 steigern. Die verkaufte Auflage sank jedoch: nach jüngsten Angaben der „Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern“ (IVW) wurden vom III. auf das IV. Quartal 1993 7.477 Exemplare weniger verkauft. Die Auflage lag Ende Dezember bei insgesamt 250.210 Exemplaren.
Bislang galt das liberale Blatt als großzügiges Unternehmen. Zum Vergleich: ein Freier bei der taz muß sich mit 65 Pfennig pro Zeile begnügen. Der Tagesspiegel (tägliche IVW-Auflage 130.745 im IV. Quartal 1993) zahlt nach Angaben der Berliner IG Medien zwar nur 1,50 Mark pro Zeile, sichere aber ein Mindesthonorar von 100 Mark pro Artikel zu. Bei der Berliner Morgenpost (Auflage im IV. Quartal: 184.027) hält man sich an den Tarifvertrag für freie Journalisten, der rund zwei Mark pro Zeile festlegt.
Für Andreas Köhn, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Medien in Berlin und Brandenburg, ist das Beispiel der Berliner Zeitung ein Anzeichen dafür, daß der Zeitungskrieg in der Hauptstadt „nun voll auf die Honorare durchschlägt“. Die Lage der freien Journalisten in Berlin, deren Zahl auf rund 3.000 geschätzt wird, hat sich laut Gewerkschaft in den letzten Monaten verschlechtert. Seitdem sich auch der in wirtschaftliche Schwierigkeiten geratene Tagesspiegel von zahlreichen Freien getrennt habe, herrsche nunmehr „ein Überangebot an qualifizierten Schreibern“, so Köhn. sev
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