: Frei von Sinn und Zweck
■ Aus der Reihe: Einzureißende Neubauten, Teil II: An der Urania
Trabantenstädte an der Peripherie hat es in Berlin weiß Gott genügend. Wer wettert nicht dagegen, daß es aber auch in der Innenstadt gehörig trabantelt? Daß nicht die Inszenierung von Stadt auf der grünen Wiese der Fehler war, sondern mehr das Konzept von „Urbanität“, aus dem diese Dinger entstanden, zeigt sich mit einem Blick auf die Gegend (das Platz zu nennen, trauen sich nicht mal die Verantwortlichen) an der Urania.
Viele Kritiker der postmodernen, durch manch Schnörkel zur Niedlichkeit neigenden Architektur sprechen heute wieder von Urbanität, die die Stadtarchitektur auszudrücken habe, und haben Angst davor, daß man den Leuten das bauen könnte, was sie wirklich wollen: niedliche Häuschen mit Giebeldächlein und Geranien vor jedem Fenster. Aber dieses Feindbild ist nur ein scheinbares, allein die innerstädtischen quadratischen Kostenmeter werden das verhindern. Was ist also die Urbanität, die da ins Feld geführt wird? Stadt, das heißt: Straße breit, Haus hoch; viel Stadt!! Das wird an der Urania durch die Begrünung der überdimensionierten „Freifläche“ noch sinnfälliger. Halt, was hat der Mann gegen Freiflächen? Sehr viel, solange das Wort „Frei“ darin einzig und allein die Freiheit von jeglichem Sinn und Zweck bezeichnet. Solange diese Flächen hauptsächlich betonierte oder bepflanzte Ehrfurchtszonen sind, einzig und allein dafür angelegt, die Monstrosität der dahinterliegenden Bauten übersteigert zu inszenieren. Nichts ist so leer wie ein leerer Swimmingpool. Aber nichts ist so trostlos wie ein Stadtplatz ohne Menschen. Das Kulturforums-Maifeld wird das wieder beweisen.
Es trabantelt ganz gehörig an der Urania, jedes Gebäude ein Trabant, der sich selbst umkreist, nicht in der Lage, mit danebenstehendem zusammen so etwas wie eine Straßenfront zu bilden. Es ist anzunehmen, daß die Anzahl der Fußgänger, die auf den Architektenentwürfen dargestellt wurden, die der wirklichen Passanten bei weitem übertrifft. Das amerikanische Ideal: Wer läuft, fällt unangenehm auf!
Fast jedes Gebäude ist auch für sich genommen schon häßlich, und die Freiflächen erlauben es nicht, darüber hinwegzusehen. Der unverbaute Blick auf das gelbgraue Eternitgebirge an der Kleiststraße, so kann man hoffen, wird wegen baulicher Mängel bald nicht mehr nötig sein, aber alles andere scheint noch festverwurzelt und rentabel. Hoffnung auf weitere Stadtverschönerung durch Abriß macht allein die neuerdings niedriger eingeschätzte Lebenserwartung von Beton, möge er alsbald zu bröseln beginnen. Stahlskelettbauten sind leider langlebiger, dafür aber leichter abzureißen!
Nach sieben Jahren sollen heutzutage in der Industrie die Anlagen abgeschrieben und veraltet sein, warum also sollen wir eure Wohn- und Gewerbeflächen-Maschinen noch immer 99 Jahre lang erdulden?
Jürgen Witte
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