Frauen aus Ost- und Westdeutschland: Ungleiche Schwestern
Ostfrauen sind trutschige Muttis und Westfrauen nervende Emanzen. So sehen sich Frauen aus beiden Teilen nach der Wende. Eine gesamtdeutsche Frauenbewegung scheitert.
An einem stürmischen Herbsttag 1992 macht sich die Ostfrau Frauke Reinhardt auf den Weg zu einem Tagungszentrum im Osten Berlins. Dort findet ein Frauenkongress statt, er soll die ostdeutsche und die westdeutsche Frauenbewegung endlich zusammenführen. Daran arbeiten Feministinnen aus beiden Ländern schon seit dem Mauerfall, eine gesamtdeutsche Frauenbewegung ist ihr großer Traum und der Kongress einer unter vielen.
Frauke Reinhardt nimmt ihre schulpflichtige Tochter und deren Freundin mit. Später sitzen die Lehrerin und die Mädchen im großen Saal und lauschen einer Künstlerin aus dem Westen. Die erzählt etwas von Emanzipation, Feminismus und "Schwesternschaft". Plötzlich unterbricht sie ihre Rede und zischt scharf ins Mikro: "Können endlich mal die beiden Knaben aus dem Raum geführt werden." Mit "Knaben" meint sie die zwei Mädchen, sie haben kurze Haare und noch keine Brüste. Tief gekränkt verlässt Frauke Reinhardt den Kongress.
Etwa zur gleichen Zeit reist die westdeutsche Journalistin Ulrike Helwerth durch Ost- und Westdeutschland. Mit Gislinde Schwarz, einer Kollegin aus dem Osten, schreibt sie gerade an einem Buch über Feministinnen aus beiden Ländern. Spät am Abend kommen die beiden Autorinnen im thüringischen Erfurt an, bei einer weiteren Gesprächspartnerin, einer "Kirchenfrau". Ulrike Helwerth und die Protagonistin kennen sich seit 1988, die Westjournalistin schätzt die Ostfeministin als aufgeschlossene und politisch integre Partnerin. Doch was die ihr nun statt einer freundlichen Begrüßung entgegenschleudert, verletzt Ulrike Helwerth bis ins Mark. Die Ostfrau sagt: "Na, du Westfrau."
Zu Beginn der Neunzigerjahre sind die ost- und die westdeutsche Frauenbewegung wie ein unerfahrenes, binationales Liebespaar: Die Beteiligten kennen sich nicht, aber sie finden sich interessant, anziehend und exotisch. Sie wollen sich lieben, ein gutes Team sein und die Welt verändern. Aber sosehr sie sich auch darum bemühen, irgendwie will es nicht so recht klappen mit ihnen. Und warum nicht? Ganz einfach und doch so kompliziert: Sie können sich nicht einander verständlich machen. Sie sprechen komplett verschiedene Sprachen.
Ihr Buch nennen Ulrike Helwerth und Gislinde Schwarz später "Von Muttis und Emanzen". Der Titel beschreibt exakt, woran die Sprachlosigkeit der vermeintlichen Schwestern damals lag: an den verschiedenen Biografien und Lebensentwürfen von Ost- und Westfrauen. Aber was soll daran so furchtbar sein? Unterschiede lassen sich überwinden, zumindest aber lässt sich darüber debattieren.
Doch die Frauen, Feministinnen, die glauben, es mit der deutsch-deutschen Vereinigung besser zu machen als Männer, sind nicht in der Lage, das jeweils Andere, Unbekannte, Fremde anzuerkennen. Unter anderem an diesem Unvermögen scheitert der erste und einzige Versuch, Frauen in Deutschland zu einer starken gesellschaftlichen Bewegung zusammenzuführen.
Frauke Reinhardt, heute 48, arbeitet damals ehrenamtlich in einem Ostberliner Frauenprojekt, sie organisiert Diskussionen, Frauenfrühstücke und Demos gegen Paragraf 218. An einer Wand im Büro hängt ein Plakat der Ostberliner Malerin Anke Feuchtenberger: Es zeigt eine eilige schwangere Frau, die auf ihren Schultern ein Kind trägt und eines unter dem Arm. Eines Tages kommt eine Kreuzbergerin ins Büro, sieht das Bild und sagt: "Diese Vorstellung ist ja schrecklich." Frauke Reinhardt ist empört. Wieder einmal wertet eine Westfrau ihre Biografie ab.
Die Auseinandersetzungen entzünden sich immer wieder an denselben Themen: Kinder, Männer, Gleichberechtigung. Die Lebensrealitäten von Ost- und Westfrauen fallen komplett auseinander: Ostfeministinnen haben fast immer Kinder, sind verheiratet und "stehen ihren Mann" im Beruf. Westfeministinnen sind häufig lesbisch, kinderlos und studieren lange. Ostfrauen setzen auf Gleichberechtigung und wollen "mit den Männern" etwas bewegen, Westfrauen grenzen Männer strikt aus. "Unsere Hauptempörung galt dem Mann sowohl als sozialem Geschlecht als auch als Individuum", sagt Ulrike Helwerth, heute 54. Westfrauen kämpfen gleichermaßen gegen den Staat und die Herrenwelt. Ostfrauen haben nur einen Gegner, den Staat. "Diese Versöhnlichkeit mit den Männern war uns total fremd", sagt Ulrike Helwerth.
Kinder zu haben bedeutet, mit dem Feind im Bett gewesen zu sein. "Aber es war unsere normale Lebensrealität", sagt Frauke Reinhardt. "Die Mutterrolle band sehr viele Kräfte", sagt Ulrike Helwerth. Darüber lachen Ostfrauen, weil sie sich alles andere als gebunden fühlten. Schließlich kennen sie sich bestens aus mit der viel beschworenen Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Und: Durch die Vollbeschäftigung sind sie finanziell unabhängig. Aber anders als den Westfrauen fehlt ihnen vielfach die universitäre feministische Bildung. So kommt es zur Rollenzuschreibung, die sich teilweise bis heute hält: Westfrauen können Feminismus und Gleichstellung wissenschaftlich erklären, Ostfrauen leben sie.
Streiten die Frauen mal nicht über den Nachwuchs, zerfetzen sie sich über den Sinn und Unsinn von Quoten, über die Frage, ob Feministinnen Miniröcke tragen dürfen und ob eine Frau ein Lehrer oder eine Lehrerin ist. Fast alle Ostfrauen benutzen damals die männliche Variante, so sind sie es gewohnt. Die Westfrauen sehen darin einen Totalangriff. "Sprache war eine Standarte", sagt Ulrike Helwerth.
Die Ostfrauen verweigern sich dem weiblichen Suffix und dem großen I allerdings nicht aus Trotz, sondern aus einem DDR-typischen Gefühl der Emanzipiertheit heraus: Sie sehen sich längst als gleichgestellt und glauben, eine sprachliche Sonderstellung nicht nötig zu haben. "Heute schmunzle ich darüber", sagt Frauke Reinhardt.
Die Frauen quälen sich aber nicht nur mit Missverständnissen in der Kommunikation und beim Biografieanspruch, sie finden auch sonst kaum gemeinsame Themen. Der einzige Punkt, in dem sie sich klar treffen, ist der Paragraf 218. Seit Jahrzehnten ist die Abschaffung des Abtreibungsparagrafen klares politisches Ziel der Westfrauen. Nun hoffen sie auf Hilfe aus dem Osten. Auch keine Ostfrau will den Rückfall in mittelalterliche Verhältnisse, gemeinsam organisieren die Frauen eine Reihe von Paragraf-218-Demos. Was die fremden Schwestern besonders zermürbt: Sie zerreden sich und beginnen Diskurse immer wieder von vorn. Weder die westdeutsche Frauenbewegung noch die ostdeutschen Feministinnen sind ein homogenes Gebilde, es gibt Lesben, Migrantinnen, Kirchenfrauen, Unifrauen, Projektefrauen, Partei- und Basisfrauen, Frauenbeauftragte, Mütter, Arbeitslose. Das Einzige, was sie verbindet, ist der Fakt, eine Frau zu sein.
So schnell geben die Frauen ihre "Blütenträume" jedoch nicht auf. Für den 8. März 1994 planen sie den bundesweiten FrauenStreikTag, mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner: Protest gegen den frauenpolitischen Rollback seit der Wiedervereinigung.
Ein Jahr lang bereiten die Frauen den Tag vor, sie gründen regionale Streikkomitees, treffen sich zu Gesamtplenen in Kassel und denken sich Aktionen aus: Die Frauen sollen die Hausarbeit niederlegen, nicht arbeiten oder wenigstens nur Dienst nach Vorschrift tun, nicht einkaufen, nicht lächeln, den Männern die Kinder auf den Schreibtisch setzen. All das passiert auch, in machen Orten mehr, in anderen weniger. Mit dabei sind Fernsehen, Rundfunk und Presse, der Tag wird zu einem Medienereignis. Ansonsten aber bleibt er folgenlos. Die mediale Präsenz ist das Einzige, was der Tag erreicht hat, werten am Ende die Skeptikerinnen. Er war mehr, halten die Befürworterinnen dagegen: Wir konnten unsere Forderungen lauthals formulieren.
Eines aber ist der Tag tatsächlich: eine bundesweite, Aufmerksamkeit erregende und vor allem gemeinsame Aktion. Für einen Moment sind Ost- und Westfrauen keine Stiefschwestern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Berliner Kultur von Kürzungen bedroht
Was wird aus Berlin, wenn der kulturelle Humus vertrocknet?