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Frau Birkenstock mag den Norden

Eva Birkenstock ist die neue Direktorin der Kestner Gesellschaft in Hannover. Aus dem Haus mit dem großen Erbe will die erfahrene Kunsthistorikerin eine disziplinen­übergreifende Denk- und Handlungsbühne machen

Schätzt an ihrem neuen Job, dass sie nun „nah an der Produktion“ ist: Eva Birkenstock Foto: Nancy Heusel/Kestner Gesellschaft

Von Bettina Maria Brosowsky

Es scheint schon ein recht alertes Leben zu sein, das von der Leiterin eines Kunstvereins oder auch einer verantwortlichen Kuratorin einer öffentlichen Sammlung abverlangt wird. Zumindest liest sich die Arbeitsbiografie der neuen Direktorin der Kestner Gesellschaft, Eva Birkenstock, so: eine schnelle Taktung aus qualifizierten, vielgestaltigen, internationalen Tätigkeiten. Zum 1. August trat die 47-jährige Kunsthistorikerin, gebürtig aus Nordrhein-Westfalen, ihre Position in Hannover an. Sie ist damit die zweite Frau an der Spitze der fast 110 Jahre alten Institution, nach der Schweizerin Christina Végh, die das Haus zwischen 2015 und 2020 leitete.

„Ich mag den Norden“, sagt Birkenstock, und verweist auf Jahre in Hamburg und Lüneburg, sie will „das nächste Kapitel der legendären Kestner Gesellschaft schreiben“. Mit rund 2.500 Mitgliedern ist diese ein Schwergewicht unter den deutschen Kunstvereinen. Ihre Gründung 1916 durch die industrielle wie intellektuelle Prominenz Hannovers wurde von der Lokalpresse als „Blitzstrahl in der Dunkelheit der nordwestdeutschen Ebene“ gefeiert. Zur Hochform lief der Kunstverein in den 1920er-Jahren auf: zeitgenössische Kunst, Fotografie, Film, Ausstellungen zum Bauhaus oder der Architektur von Walter Gropius sowie der sowjetische Konstruktivist El Lissitzky als Prototyp des „Artist in Residence“ hievten Hannover auf die Landkarte der internationalen Avantgarde. Eine zweite Hochphase folgte ab den 1970e- Jahren bis zur Jahrtausendwende: zwei Beuys-Ausstellungen, Christo, Warhol oder 1986 eine frühe, wenn nicht gar erste Personale des Schwarzen US-Künstlers Jean-Michel Basquiat in Deutschland.

Ein großes Erbe – und ein hohe Erwartung an die neue Direktorin. Aber Birkenstock weiß ihre Entscheidung zu begründen, sie scheint die Konsequenz zu sein aus Erfolgen, die aufeinander aufbauten. Nach ihrem Studium der Kunstgeschichte und Kulturanthropologie in Köln, Berlin und Havanna wurde sie 2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunstverein Hamburg unter Yilmaz Dziewior. Auf drei Jahre Hamburg folgten weitere drei als Co-Leiterin der Halle für Kunst in Lüneburg. In diesem 1995 gegründeten Kunstverein konnte sie die Jahresprogramme mitverantworten, sie lernte auch die Alltagsroutinen kennen, etwa, notwendige Budgets einzuwerben.

Sie erprobte Kooperationen, so 2009 mit Bremer Institutionen und dem Kunstverein Harburger Bahnhof. Das Phänomen des physischen wie sozialen Raumes, seine Bedeutung, Aneignung, sein Verlust wurden künstlerisch reflektiert. Schon damals erdachte sie Ausstellungen mit dem Blick über den Tellerrand. Als Dziewior in jenem Jahr die Leitung des Kunsthauses Bregenz übernahm, holte er Birkenstock als Kuratorin in sein Team. Zuständig für Projekte jenseits klassischer Ausstellungen thematisierte sie die Architektur und den Kontext des Hauses, ein minimalistischer, glasverkleideter Kubus des Schweizer Architekten Peter Zumthor. Sie plante interdisziplinär, auch mit Architekt:innen. Oder sie co-produzierte 2010 Milo Raus „Hate Radio“: ein Reenactment zum Radiosender RTML in Ruanda, der 1994 die Hutu-Milizen zum Völkermord an den Tutsi aufhetzte.

Cauleen Smith: The Volcano Manifesto“: Eröffnung am Do, 11. 12., 19 Uhr, Kestner Gesellschaft, Goseriede 11, Hannover; Ausstellung bis 22. 3. 26; kestnergesellschaft.de

2014 ging Birkenstock für ein Jahr nach New York, leitete als Stipendiatin den Ausstellungsraum „Ludlow 38“ des Goethe-Instituts und knüpfte Kontakte in die US- wie auch südamerikanischen Kunstszenen. Auf Bregenz folgte von 2016 bis 2021 die Leitung des Kunstvereins für die Rheinlande und Westfalen in Düsseldorf. Neben Solodebüts von Künst­le­r:in­nen und Kooperationprojekten sezierte sie zum 50-jährigen Jubiläum des Hauses anhand dessen Architektur die kulturpolitischen Konflikte nach 1945.

„Das Haus hat eine ungemeine Kraft, das merke ich schon jetzt“

Eva Birkenstock, Direktorin der Kestner Gesellschaft

Von dort ging sie 2021 als Direktorin an das Ludwig Forum für Internationale Kunst in Aachen, „ein tolles Haus mit einer bedeutenden Sammlung“, so Birkenstock. Dort sichtete sie auch problematische Sammlungskonvolute wie zu sowjetischer Staatskunst oder legte ein internationales Stipendienprogramm auf.

An ihrer neuen Position schätzt sie, „nah an der Produktion“ zu sein. Sie schwärmt von den Räumen der Kestner Gesellschaft und seinen musealen Konditionen wie Klimastabilität und gute Beleuchtung, die Leihgaben möglich machen. „Das Haus hat eine ungemeine Kraft, das merke ich schon jetzt“, meint sie, möchte es als disziplinenübergreifende Denk- und Handlungsbühne positionieren. Und sie startet gleich mit eigenem Programm durch. Wenn alles klappt, wird ab Mitte Dezember die US-amerikanisch Filmemacherin und Multimediakünstlerin Cauleen Smith in ihrer ersten institutionellen Einzelausstellung in Deutschland alle Räume des Hauses bespielen.

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