Franz B. flüchtet zur Elefantenrunde
■ BRD - CSFR 1:0 / Lothar Matthäus‘ Elfmeter bringt die Deutschen ins Halbfinale gegen England, aber Helmut Kohl verunsichert sie am Ende schwer durch eine rote Karte - für die Tschechoslowakei
Aus Mailand Herr Thömmes
Der Teamchef war sauer. Kaum hatte Helmut Kohl die Pfeife das letzte Mal zum Mund geführt, nahm Franz Beckenbauer die Brille ab und stapfte schnurstracks zum Ausgang. Kein Blick links oder rechts.
Doch im Gegensatz zu früheren Tagen genügt heute eine halbe Stunde, den Blutdruck des Perfektionisten wieder auf Normalstand zu bringen. Schon hat er dann dieses maliziöse Lächeln zurück, das niemandem persönlich gilt, ist er ganz der Verkäufer des Produkts „Deutscher Fußball“, Diplomat durch und durch.
Ist das eine Pressekonferenz zum Spiel Bundesrepublik Tschechoslowakei oder die Bonner Elefantenrunde am Wahlabend? Da kann ein mexikanischer Journalist eine noch so knappe und präzise Frage stellen, Beckenbauer „muß erst einmal ganz grundsätzlich sagen: Wir haben das Ziel erreicht, wir sind im Halbfinale. Es war wichtig zu gewinnen.“ usw.
Vielleicht muß er sich erst einmal warmreden, um nicht mehr jedes Wort zu wägen, ehe er von „nachlässig“ spricht, von „unerklärlichen Fehlern“ und: „Wir haben heute nur phasenweise gezeigt, daß wir zu den Favoriten gehören.“ Was den Teamchef so vergrätzte, waren die letzten zwanzig Minuten im Giuseppe-Meazza-Stadion (oder San-Siro-, wie's beliebt). Zum ersten Mal bei dieser Weltmeisterschaft war da das Selbstverständliche verschwunden, mit dem seine Mannschaft bisher das programmierte Ziel angesteuert hat: das Finale am 8. Juli in Rom.
Um so irritierender war die Kopflosigkeit für Beckenbauer, weil die CSFR zu diesem Zeitpunkt nur noch mit zehn Spielern auf den Platz stand. Warum ist nur plötzlich „jeder mit dem Ball gelaufen, statt zu spielen“, rannten sich die Stürmer beim Kontern fast über den Haufen, anstatt geschickt die ganze Breite des Feldes zu nutzen? Auf einmal war das dezimierte Team „stärker als zuvor“, und der Ball von Vaclav Nemecek hätte mit ein wenig Glück auch den Weg ins lange Eck finden können (76.).
Nötig war das nicht, am Ende noch einmal derart in Bedrängnis zu kommen. Bereits nach vierundzwanzig Minuten hatte Matthäus stramm einen Elfmeter im Tor plaziert, nachdem Klinsmanns Solo von Straka und Chovanec klassisch mit der Zange abgeknipst wurde. Auch Buchwald, der überraschend konstruktiv und meterfressend seine Freiheit auf der rechten Seite nutzte, war zweimal nahe am Erfolg (17./18.).
Die CSFR indes suchte erfolgreich ihr Image zu verteidigen, eher der gepflegten Langsamkeit zu huldigen. Träge und durchaus der Mailänder Hitze angepaßt, trabten sie nach vorn, so daß dem nur anfangs agilen Augenthaler genug Zeit blieb, seinen Haufen zusammenzurufen. Die beiden Stürmer Knoflicek und Skuhravy (der noch immer mit fünf Toren erfolgreichste der WM) hatten gegen ihre direkten Kontrahenten Berthold und Kohler überhaupt nichts zu bestellen.
In umgekehrter Richtung war mehr Bewegung, vor allem schnellere. Littbarski, Bein, Brehme, Matthäus, alle spielten ordentlich, Bein später sogar auffällig gut, und nahmen ihre Pausen taktisch klug zu unterschiedlichen Zeiten. Klinsmann versuchte erneut den Spring-ins-Feld, wenn auch ziemlich hektisch und „zu eigensinnig“ (Rudi Völler), und Riedle drehte sich in die Gegner wie einst Gerd Müller, nur weniger effektiv. Und das Mühen zeigte Früchte: Klinsmanns Schuß - Hasek köpft von der Linie (45.); Buchwald köpft - Bilek schlägt von der Linie (46.); Torwart Stejskal bringt den freien Bein zum Fallen - die Pfeife schweigt (62.).
Konnte, wo man Aktionen und Gegner derart kontrollierte, der Teamchef nicht erwarten, daß dann gegen zehn die verbleibende Zeit spielerisch souverän verbracht würde? Alles ging doch nach Wunsch und Plan in den vergangenen Wochen. Selbst das Publikum, überwiegend in Schwarz-Rot -Gold, zeigte wenig Anteilnahme. Fast schien es, als müßte jetzt nur noch eher überdrüssig Minuten abgesessen werden, ehe endlich beim unabwendbaren Finale gegen Italien wieder Emotionen gezeigt werden können. Wie feiern dagegen die Einheimischen in Rom, hüpfen dort ganze Blöcke - Sitzplatz hin oder her - Arien schmetternd auf der Stelle, um das Olympiastadion in einen großen Wackelpudding zu verwandeln.
Auch die Schiedsrichter wollen nur noch das Eine. So viel ist jetzt geschrieben und geredet worden von den beiden, die doch die Besten seien, daß es keiner offiziellen Anordnung mehr bedarf, das Wunschfinale, welches der Spielplan möglich macht, zu erfüllen: die Wiederholung von 1982.
Italien haben sie schon geholfen durch eine Summe vieler kleiner Pfiffe, und das ist nicht die einzige Parallele dieser beiden Mannschaften: Gut gestartet (Jugoslawien/Österreich), etwas ins Stolpern geraten (Kolumbien/USA), überlegen gespielt und doch nicht sicher im Halbfinale gelandet. Und sind nicht beide bislang von echtem Selbstvertrauen getragen, während die anderen sich eher erstaunt und glücklich von Runde zu Runde hangeln. Vielleicht hat in der 70. Minute Helmut Kohl die rote Karte für Lubomir Moravcik tief aus dem Unterbewußtsein gezogen.
Es gehört schon viel Pedanterie und Humorlosigkeit dazu, für eine Szene, die in anderem Moment als Slapstick belacht worden wäre, mit einem Platzverweis zu reagieren: Da hatten sich Littbarski und Moravcik etwas verheddert, und letzterem flog beim ärgerlichen Luftkick der Schuh vom Fuß. Was aber, wenn der Schnürsenkel dem Druck standgehalten hätte? Einen Gefallen hat Herr Kohl dem Teamchef jedenfalls mit dieser Amtshilfe nicht getan. Was bis dahin nach einer engagierten Pflichterfüllung aussah, wurde auf einmal zu einer nervenden Last. Und die deutschen Kicker kamen plötzlich ab vom geraden Weg nach Rom.
Vielleicht ist ihnen auch nur spät eingefallen, wie häufig hier schon die Besseren das Nachsehen hatten. Der Schrecken der Erkenntnis kann schon mal Geist und Körper lähmen.
CSFR: Stejskal - Kocian - Kadlec, Straka - Moravcik, Hasek, Kubik (80. Griga), Chovanec, Bilek (68. Nemecek) - Skuhravy, Knoflicek
BRD: Illgner - Augenthaler - Kohler, Buchwald - Berthold, Littbarski, Matthäus, Bein (83. Möller), Brehme - Riedle, Klinsmann
Zuschauer: 73.347
Tor: 0:1 Matthäus (25./Foulelfmeter)