Frankreich nach der Wahl: Ringen um Regierungsbildung
Staatspräsident Emmanuel Macron wendet sich in einem offenen Brief an die Französ*innen. Er wünscht sich eine breite, gemäßigte Koalition.
Sieben von zehn Französinnen und Franzosen sind mit dem Ergebnis der vorzeitigen Parlamentswahlen unzufrieden. Sie waren freilich vorher mit der bisherigen Staatsführung und Volksvertretung auch nicht glücklicher. Die von Präsident Emmanuel Macron herbeigeführten Neuwahlen haben also diesbezüglich nichts geändert.
Nur ist heute die Lage mit der neuen Sitzverteilung in der Nationalversammlung komplizierter. „Niemand hat gewonnen“, schrieb Macron, der derzeit in Washington am Nato-Gipfel teilnimmt, sich aber dennoch in einem offenen Brief an seine Landsleute wandte, um ihnen zu sagen, was er vom Wahlergebnis hält.
In seinem Schreiben konstatiert er, dass „keine politische Kraft alleine eine Mehrheit“ erhalten habe. Auch die Blöcke oder Koalitionen, die aus den Wahlen hervorgegangen seien, „sind alle minoritär“. Macron will offenbar sagen, dass eigentlich alle Parteien samt und sonders verloren haben, nur er selbst nicht. Von seiner eigenen Verantwortung für das Ergebnis der Wahl ist in seinem Brief nirgends die Rede. Die Zeitung Libération bezeichnete den Präsidenten deshalb als „schlechten Verlierer“.
Eine Lösung benennt er dennoch: Diejenigen politischen Kräfte, die nach seiner Definition „die Institutionen der Republik, den Rechtsstaat, das Parlamentssystem, die Europapolitik und die Verteidigung der französischen Unabhängigkeit“ anerkennen, sollten sich über die früheren Trennlinien hinweg zusammenschließen. Zusammen hätten diese Fraktionen eine absolute Mehrheit. Arithmetisch mag das sogar stimmen.
Ausschließen will Macron sowohl die Rechtsextremisten des Rassemblement National von Marine Le Pen als auch die linke Partei La France Insoumise (LFI) unter Jean-Luc Mélenchon.
Mit der großen Koalition will Macron die sogenannte Cohabition verhindern. Das bedeutet, dass er als Staatspräsident sich einer gegnerischen Regierung gegenüber sähe, mit der er koexistieren müsste. Das würde sowohl das Regierungshandeln erschweren als auch das des Staatspräsidenten Macron. Logisch, dass ihm eine breite Koalition aus gemäßigten Kräften attraktiver erscheint. Nur gibt es in Frankreich kaum Beispiele dafür.
Und vor allem scheinen die Parteien der linken Volksfront (Nouveau Front Populaire) eher gewillt zu sein, es zunächst auch ohne parlamentarische Mehrheit zu versuchen. Sie fordern vom Präsidenten, unverzüglich eine*n Premierminister*in aus ihren Reihen mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Einen oder mehrere Namen will die linke Wahlunion ihm noch in dieser Woche vorlegen. Seit Montag läuft die interne „Kür“, die Medien nennen angebliche Favoriten. Macron möchte dagegen Zeit gewinnen und womöglich seinen Premier Gabriel Attal bis nach den Olympischen Spielen beibehalten. Oder wenn schon eine Minderheitsregierung, dann vielleicht sogar eher mit einem Konservativen an der Spitze?
Die linke Volksfront, die bei den Parlamentswahlen die Mehrheit der Stimmen auf sich vereint hat – aber keine absolute Mehrheit erreicht hat – ist über Macrons Vorschläge empört. Zur Volksfront hatten sich neben La France Insoumise die Sozialisten, Grünen und Kommunisten zusammengeschlossen. Sie kamen auf 183 von 577 Sitzen in der Nationalversammlung.
Doch nicht alle finden die Idee Macrons absurd, eine Koalition zwischen einem Teil der Linken – unter Ausschluss von LFI – und den Macronisten zu bilden, eventuell zudem mit den Konservativen von Les Républicains. In sozialen Netzwerken kursiert ein heimlich aufgezeichnetes Gespräch, in dem der Chef der Kommunisten, Fabien Roussel, am Telefon während einer Bahnfahrt mit Unbekannten verschiedene Koalitions-Szenarien erörtert. Das stellt die Einheit der Volksfrontparteien, die ohnehin schon Spannungen ausgesetzt war, auf eine harte Probe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Lateinamerika und Syrien
Assads Freunde