Frankfurter Fachzeitschrift „Exil“: Kostbare Erinnerung
Edita Koch ist seit 42 Jahren Redakteurin, Herausgeberin und Verlegerin von „Exil“, einer Zeitschrift über Exilliteratur zwischen 1933 und 1945.
Auf der zweiten Seite des Buchs findet sich rechts oben eine handschriftliche Widmung. „Zum 15/10 43 von Ihren Freunden / Lily und [unleserlich]. Darunter befindet sich ein blauer Aufkleber. „Pigmalión, Corrientes 515 – Bs, Aires“ steht darauf.
Nun ist das Buch mit diesem Innenleben nicht irgendein Buch. Es handelt sich um „Das siebte Kreuz“ der Exilschriftstellerin Anna Seghers in der mexikanischen Erstausgabe von 1942/43. Auch zählt der Käufer des überaus seltenen Werks nicht eben zur Laufkundschaft. Hans-Willi Ohl ist Vorsitzender der deutschen Anna-Seghers-Gesellschaft.
Aus dem Zufallsfund eines alten Werks wird eine Kriminalgeschichte. Ohl will herausfinden, was das für eine Buchhandlung in Buenos Aires war, deren Aufkleber er in Seghers KZ-Roman gefunden hat. Er taucht tief ein in die argentinische Exilszene, berichtet von den Nazis in Buenos Aires und den deutschstämmigen Demokraten mit ihrem Verein Vorwärts und dem Argentinischen Tageblatt.
Treffpunkt der Verfemten
Am Ende findet er die exilierte Jüdin Lili Lebach aus Wuppertal und ihre 1942 gegründete Buchhandlung, ein Treffpunkt der verfemten Deutschen in einem ihnen so fremden Land. Im Jahr 1987 ist Lebach verstorben. Sie ist nie nach Europa zurückgekehrt. Ihre Geschichte findet sich in der neuesten Ausgabe einer Zeitschrift mit dem Namen Exil. „Exil 1933 bis 1945“ und „Flucht und Migration heute“ steht unten auf dem weißen Titelblatt, doch die Geschichten mit Bezug auf die NS-Geschichte überwiegen deutlich.
„Exil“ kann man über den Buchhandel oder direkt beim Verlag abonnieren. Eine Ausgabe kostet 19 Euro.
info@exilverlagkoch.de
Da schreibt Max Bloch über das Schicksal der deutsch-jüdischen Familie Zuelzer. Ein anderer Beitrag beschäftigt sich mit dem deutschen Journalistenverband im Exil, ein weiterer mit dem schwulen Holocaustüberlebenden und Opernregisseur Andreas Meyer-Hanno. Es sind gediegene Texte, wissenschaftlich fundiert und mit Fußnoten versehen.
Niemand muss sich genieren, wer von der Zeitschrift Exil noch nie gehört hat. Dem Autor ging es nicht anders, bis er Edita Koch an ihrem Stand auf der Frankfurter Buchmesse erstmals getroffen hat. Koch und Exil sind sozusagen identisch: Sie ist Redakteurin, Verlegerin und Herausgeberin in einem, und das seit 42 Jahren. Koch befindet sich selbst im (inzwischen freiwillig gewählten) Exil und kann nicht von der Beschäftigung mit dem Exil lassen. Und sie macht weiter, obwohl die Zahl der Interessenten für die Zeitschrift immer kleiner wird. Gerade einmal 300 Exemplare verschickt sie noch zweimal im Jahr an ihre Abonnenten in aller Welt.
„Sagt nicht, dass ihr jüdisch seid!“
Edita Koch kam 1954 in der Tschechoslowakei zur Welt. Ihre Eltern waren Juden, die den Holocaust überlebt hatten, der Vater war im KZ Auschwitz. „Sagt nicht, dass ihr jüdisch seid, denn das ist gefährlich“, das habe der Vater seinen Kindern in dem kommunistisch regierten Land eingebläut, berichtet Edita Koch. „Wenn jemand fragt, sagt, ihr seid Zigeuner“, hieß es daheim.
Man ging nicht in die Synagoge, betete lieber zu Hause. Die Geheimpolizei sei im Elternhaus ein- und ausgegangen, mehrfach wurde der Vater festgenommen. 1961 setzte er sich in den Westen ab. 1968, im Prager Frühling, folgten die Mutter und die beiden Kinder. Sie landeten in Frankfurt am Main.
Der Vater mochte nicht, dass die Tochter im Land der Täter aufwuchs. Er schickte sie in ein Kibbuz nach Israel. „Das war nichts für mich“, sagt sie heute. Edita ging ihren eigenen Weg. Sie studierte Germanistik, Judaistik und Slawistik an der Goethe-Universität in Frankfurt und lernte dabei den Schriftsteller Ernst Erich Noth kennen, der die NS-Zeit im Exil in Frankreich und den USA verbringen musste. Es muss da ein Funke geflogen sein, von Noth zu Koch. Kein erotischer, nein – ein literarischer.
Zunächst ein Orchideenfach
Ende der 1970er war Exilforschung ein Orchideenfach, es steckte noch in den Kinderschuhen, hatte aber mit dem Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek eine Ikone. Über mehr als 20 Jahre hatte die bundesdeutsche Gesellschaft das Thema beschwiegen. So lange, bis sich niemand mehr daran erinnern konnte, dass diese Menschen bewiesen hatten, dass es eine Alternative zum Duckmäusertum gab.
Doch die Tschechin Edita Koch erinnerte sich, ebenso wie ihr Mann Joachim. Da es kein Forum für Exilforschung gab, gründeten sie eines. 1981 erschien die erste Ausgabe von Exil als reine Privatinitiative. Es sei ein „gemeinsames Kind“ gewesen, erinnert sie sich. Nur ein halbes Jahr später starb der Ehemann. Seitdem ist Edita Koch die Alleinerziehende von Exil. „Ich war ja selbst im Exil und fühlte mich nicht ganz zu Hause“, sagt sie. Bis zu 160 Seiten umfasst jede Ausgabe. Die Texte entstammen einem Netzwerk von Autoren, das sie über die Jahrzehnte gesponnen hat.
Wie sie eine Ausgabe zusammenstellt? „Ich führe Selbstgespräche“, bekennt sie. Die Hefte verfolgten kein bestimmtes Unterthema, sondern sollen eine gute Mischung präsentieren und wissenschaftlich fundiert sein. Es habe aber auch Vorteile, „wenn Sie völlig unabhängig arbeiten“, sagt Koch. Zum Exilarchiv bestehe ein „freundliches Verhältnis“, zu anderen Institutionen seien die Beziehungen weniger gut – akademische Eifersüchteleien eben.
Schriftwechsel im Keller
Als Edita Koch ihr Mammutwerk begann, waren viele der exilierten Schriftstellerinnen und Schriftsteller noch am Leben. Koch besuchte sie in New York und London. Die Autoren von damals sind längst tot. Der Schriftwechsel mit ihnen liegt jetzt im Keller ihrer Wohnung. So wie Koch selbst sind auch ihre Autoren älter geworden, „Viele sind schon über 80“, sagt Koch. Und auch die Leserschaft altert. Im Internet ist Exil nicht zu finden.
Früher einmal, in den Hochzeiten, hatte Exil eine verkaufte Auflage von 1.000 Exemplaren. Heute sind es weniger als ein Drittel. Ein Honorar für Beiträge kann Edita Koch nicht zahlen. Sie selbst lebt nicht etwa von der Zeitschrift, sondern von ihrer Rente als langjährige Archivarin des Suhrkamp Verlags.
Die Druckereirechnungen zahlt sie mittlerweile in drei Raten ab, die Zeitschrift knabbere an ihren Ersparnissen, den Stand auf der Buchmesse habe sie mit einem Kredit finanziert, sagt sie. Dabei habe sie dort Angst gehabt, dass ein Israelhasser sie mit dem Messer angreifen könnte. „Solange es geht, mache ich weiter“, sagt Koch, und: „Es gibt immer Mittel und Wege.“ Das Thema sei ja inzwischen noch aktueller als damals in den 1980er Jahren geworden, mit ganzen Völkern, die ins Exil gezwungen würden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren