Fragwürdige Olympia-Leistungen: Der Trampolin-Effekt
Die Rekordflut in der Leichtathletik ebbt nicht ab. Liegt es an der Bahn, den neuartigen Schuhen, oder ganz klassisch an der Medikation?
Amerika will genau das hören: Geschichten, die zu Herzen gehen. Ryan Crouser hatte so eine Story zu bieten. Der 28-jährige Kugelstoßer, der in Tokio mit 23,30 Metern nur sieben Zentimeter unter seinem erst kürzlich aufgestellten Weltrekord blieb, gedachte nach dem zweiten Olympiasieg seines Großvaters. Der war kurz vor den Spielen verstorben. Der Enkelsohn hatte extra ein Schild bemalt und nach dem Wettkampf in die Kamera gehalten, um „Grandpa“ zu würdigen.
Crouser, dessen halbe Familie Speere oder Kugeln durch die Gegend geschleudert hat, erzählte, wie sein 7,25 Kilo schweres Trainingsgerät einmal wie ein Geschoss in Grandpas Schuppen krachte und dass der Großvater „im Geiste“ in Tokio anwesend gewesen sei. Der Athlet mit dem Motto „Wenn du nicht Erster bist, hast du schon verloren“ stolzierte nach seinem Sieg mit Cowboy-Hut durch die Arena. Das sind Bilder, die um die Welt gehen und den Ruf der Leichtathletik als olympische Kernsportart stärken.
Die erlebt eh gerade einen Aufschwung, der Stauen macht. Seit August 2020 gab es über olympische Laufdistanzen neun Weltrekorde, in dreieinhalb Jahren zuvor waren es nur drei. Unglaublich muteten die Weltrekorde über 400 Meter Hürden bei den Männern (Warholm) und den Frauen (McLaughlin) an.
Auch die Sprints über 100 Meter waren Munition für das Heer der Skeptiker. Die Jamaikanerin Thompson-Herah gewann in 10,61 Sekunden, obgleich ihre Durchschnittszeit bei ihren vergangenen Auftritten in der Diamond League bei 10,89 Sekunden liegt. Der italienische Sprintsieger Jacobs war 9,80 Sekunden schnell – sein Diamond-League-Schnitt: 10,08 Sekunden. Zwei kleine Wunder!
Testlücken durch Corona
All diese Steigerungen sind erstaunlich. Die einen sagen: Es sind nun mal die Olympischen Spiele, bei so einem Ereignis ist das normal. Die anderen führen den technologischen Fortschritt ins Feld. Die Tartanbahn federe phänomenal, habe quasi einen Trampolineffekt, und den Rest erledigten die neuen Laufschuhe mit Karboneinlagen. So wird eher über Hightech als über das leidige Thema Doping in Tokio diskutiert, dabei wäre das nötig, denn durch Corona ist die Zahl der Dopingtests weltweit eingebrochen, allein in Deutschland im vergangenen Jahr um 25 Prozent.
Die von der Welt-Anti-Doping-Agentur veröffentliche Statistik für die Zeit vom Corona-Ausbruch im März 2020 bis zur Wiederherstellung einer globalen Kontrollnormalität spricht Bände: Besonders eklatant war die Test-Erosion im April 2020. Verglichen mit 2019 sank die Zahl der Tests weltweit von 25.219 auf 578. Im Mai von 27.146 auf 2.625 sowie im Juni von 26.904 auf 7.706. Auch in diesem Jahr hinkt die Wada noch hinterher.
Dennoch ist den Dopern nicht Tür und Tor geöffnet. Die Internationale Test-Agentur (ITA) wird bei den Olympischen und Paralympischen Spielen insgesamt rund 5.000 Urin- und Blutkontrollen durchführen. Rund 250 Dopingkontrolleure sind im Einsatz, dazu etwa 700 sogenannte „Chaperones“, die die Athleten über die Tests informieren und sie zu den Kontrollen begleiten.
Allein in der Leichtathletik gibt es 800 Dopingtests, zudem war das vorolympische Anti-Doping-Programm recht ausgefeilt. Die ITA ließ auf Basis von 25.000 Kontrollempfehlungen in den vergangenen sechs Monaten potenzielle Olympiastarter testen. „Die Empfehlungen für qualifizierte Athleten sind zu 80 Prozent umgesetzt worden“, bilanzierten die Tester.
Dieses Programm in Kooperation mit nationalen Anti-Doping-Organisationen und den Weltsportverbänden zeige „die globale Motivation, gleiche Bedingungen für alle zu gewährleisten“. Es sei das umfangreichste Testprogramm, „das jemals vor einer Ausgabe der Olympischen Spiele umgesetzt“ worden sei. Vor den Rio-Spielen 2016 waren es nur 1.500 Empfehlungen für sieben Risikosportarten.
Drei Leichtathleten hat man bei den Sommerspielen von Tokio schon erwischt: die Nigerianerin Okagbare, den Kenianer Odhiambo und den Georgier Abramjan. Ein Kugelstoßer, dessen Geschichte eher nicht zu Herzen geht.
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