Forschungsskandal in Schweden: Doktor Frankensteins Luftröhren
Einem einst gefeierten Stammzellforscher vom Karolinska-Institut wird vorgeworfen, Forschungsergebnisse gezinkt zu haben.
Das schien zu gelingen. Von einer „OP-Sensation“ schrieb 2013 der Spiegel und der TV-Sender Arte kündigte eine Macchiarini-Dokumentation als „Stück Science-Fiction“ an: „Wissenschaftler entnehmen Stammzellen aus der Hüfte einer Patientin, stellen ein künstliches Organ für sie her und retten ihr damit das Leben.“ Mittlerweile läuft Macchiarinis Methode, eine künstliche Luftröhre aus Nanofasern mit körpereigenen Stammzellen zu beschichten und Patienten mit unheilbaren Luftröhrenschäden einzuoperieren, unter dem Stichwort „Forschungsskandal“.
Ohne vorherige Operationen an Versuchstieren und obwohl noch kein Chirurg derartige Eingriffe vorgenommen hatte, experimentierte Macchiarini gleich mit Menschen. Schon nach der Operation des ersten Patienten im Juni 2011, bei dem an Luftröhrenkrebs erkrankten Eritreaner Andemariam Beyene, ließ er sich als Pionier feiern. Karolinska rühmte sich in einer Pressemeldung der „einzigartigen Methode“ und behauptete, ebenso wie ein Artikel Macchiarinis in der Medizinzeitschrift The Lancet, schon fünf Monate nach der Operation: Die Luftröhre von Beyene habe sich fast vollständig neu gebildet. Der Chirurg startete bald eine Zusammenarbeit mit einem US-Medizinunternehmen. Das warb 2014 unter Hinweis auf einen lukrativen Markt und ein „kapitaleffizientes“ Geschäftsmodell mit jährlich geschätzt 7.700 solchen Operationen um Investoren.
Da war Beyene nach langem Leiden und dauerhaften Komplikationen bereits seit Monaten verstorben. Ärzte fanden eine teilweise kollabierte und verstopfte Plastikröhre und keine Spur von dank der Stammzellen neugebildetem Gewebe. Von acht operierten Patienten starben sechs und im Juni 2014 zeigten vier Karolinska-Ärzte Macchiarini wegen Fälschung von Forschungsresultaten an. Vorwurf: In sechs von ihm veröffentlichten Artikeln seien die Ergebnisse der Operationen falsch dargestellt worden.
Späte Reaktionen
Die Verantwortlichen beim Karolinska-Institut reagierten nicht. Sprachen Macchiarini auch noch ihr Vertrauen aus, nachdem im Mai 2015 ein externer Gutachter zum Ergebnis „Unredlichkeit in mehreren Fällen“ gekommen war und ein erster TV-Bericht in Schwedens öffentlich-rechtlichem Fernsehen SVT anfing, den ganzen Skandal aufzudecken. Das änderte sich erst, nachdem die US-Zeitschrift Vanity Fair im Januar Macchiarini als notorischen Lügner beschrieb und Zweifel an seinem Lebenslauf und den behaupteten Meriten weckte. Fast gleichzeitig strahlte der SVT eine aufwändige dreiteilige Dokumentation über den Fall aus.
Karolinska wollte ganz einfach an „Dr. Frankenstein“ – wie sich Macchiarini scherzhaft selbst bezeichnete – glauben und habe auf bahnbrechende Ergebnisse gehofft, meint der Doku-Verfasser Bosse Lindquist: Es gebe einen Wettbewerb zwischen den medizinischen Forschungseinrichtungen, gepaart mit „institutioneller Arroganz“. Macchiarini wurde nicht gekündigt, aber seine Anstellung, die im November ausläuft, wird nicht verlängert. Und es gibt Forderungen, die Karolinska-Führung auszuwechseln. Urban Lendahl, Professor am Karolinska-Institut, der einst Macchiarini empfohlen hatte, zog bereits erste Konsequenzen: Er trat als Generalsekretär des Nobelpreiskomitees für Medizin zurück.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos