Forschung Herr Endrass, wie ändert sich das Zusammenleben, wenn viele Menschen bewaffnet sind?: „Das verändert die Dynamik zu Hause“
46, ist Kriminalpsychologe und leitet die Arbeitsgruppe Forensische Psychologie an der Universität Konstanz. Der Schwerpunkt seiner Forschung liegt auf Gewalt im sozialen Nahbereich.
Interview Steffi Unsleber
taz. am wochenende: Herr Endrass, in Deutschland sind immer mehr Waffen im Umlauf, legale und illegale. Waffenaktivisten behaupten, dass die Gesellschaft dadurch sicherer wird. Wissenschaftler entgegnen, dass das Gegenteil der Fall ist. Was stimmt denn jetzt?
Jérôme Endrass: Es gibt Modelle von Ökonomen, die davon ausgehen, dass sich die Sicherheit erhöht, wenn mehr Waffen im Umlauf sind, weil jede Person, jede Frau, die man belästigt, bewaffnet sein könnte – und man Angriffe dann eher unterlässt. Die forensische Realität zeigt aber, dass es eine große Hemmschwelle für Durchschnittsbürger gibt, gewalttätig zu werden. Gleichzeitig gibt es Risikopersonen, die sowieso gewalttätig werden, egal ob sie eine Waffe haben oder nicht.
Also macht es keinen Unterschied, ob es mehr oder weniger Waffen gibt?
Wir haben umfangreiche Studien zu Schulattentätern gemacht und festgestellt: Die Waffenverfügbarkeit spielt für die Tat eine große Rolle. Diese Menschen wären sonst wahrscheinlich auch gewalttätig geworden, aber es hätte weniger Opfer gegeben. Darum denke ich, dass eine erhöhte Verfügbarkeit von Schusswaffen die Gesellschaft eher unsicherer macht und nicht umgekehrt. Das ist eine Hypothese. Ich kann sie nicht belegen, aber ich gehe davon aus.
Warum können Sie diese Hypothese nicht belegen?
Es ist schwierig, Aussagen über eine gesamte Gesellschaft zu treffen. Wir befinden uns in keiner experimentellen Situation. Wir können betrachten, ob es weniger Morde gibt, wenn Waffengesetze verschärft werden. Aber im Prinzip wissen wir nicht, ob eine Kausalität zwischen den beiden Variablen besteht. Es könnte auch einen dritten Faktor geben, den wir nicht kennen.
Waffenaktivisten beziehen sich immer auf die Schweiz. Dort gibt es viele Waffen, aber es ist ein sehr sicheres Land. Sie sind in der Schweiz geboren – wie sind da Ihre Erfahrungen?
Die Schweizer haben Waffen durch die Armee. Die Waffe ist dort ein Arbeitsinstrument. Man muss regelmäßig schießen gehen. Das ist eine Pflicht und kein Ausdruck einer Waffenaffinität. Und das macht etwas mit den Leuten. Das Land ist ein Beispiel dafür, dass friedliche Gesellschaften mit hoher Waffendichte möglich sind. Aber der Schluss: Wenn die Schweizer das können, können wir das auch, der funktioniert nicht.Man kann die Erfahrungen eines Landes nicht auf ein anderes übertragen, nur weil man sich sprachlich und religiös ähnlich ist. Warum? Es gibt keinen einzigen Fall eines Schulattentats in der Schweiz. Daran sieht man: Die Schweizer Gesellschaft ist vermutlich weniger heteroaggressiv als die deutsche, ganz generell. Dafür gibt es mehr Suizide, auch mit Schusswaffen.
Wie verändert sich der Umgang miteinander, wenn in einer Gesellschaft mehr Waffen im Umlauf sind?
Im Bereich der häuslichen Gewalt sieht man: Wenn Frauen wissen, dass der Mann eine Waffe hat, schüchtert sie das ein. Er kann dann bedrohlich auftreten, ohne eine Drohung auszusprechen – was strafrechtlich noch kein Delikt ist. Aber es verändert die Dynamik zu Hause. Auch die Polizei weiß: Wenn viele Menschen eine Waffe haben, dann müssen sie ganz anders agieren. Das kann Interventionen erschweren oder belasten. Außerdem gibt es mehr Waffenunfälle. Im Prinzip geht es darum, ob eine Gesellschaft bereit ist, gewisse Risiken auf sich zu nehmen. Aber das ist dann eine gesellschaftspolitische Frage und keine wissenschaftliche mehr.
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