Folgen des Zweiten Weltkriegs: Im Schatten der Katastrophe
Der Historiker Keith Lowe legt seine Globalgeschichte „Furcht und Befreiung. Wie der Zweite Weltkrieg die Menschheit bis heute prägt“ vor.
Angela Merkel mit einmontierter Hakenkreuzbinde in griechischen und polnischen Medien, Blockbuster mit heranstürmenden US-Soldaten, Panzer auf Siegesparaden in Moskau: Dass der Zweite Weltkrieg bei der Interpretation politischer Kontroversen genauso wie in der Erinnerungskultur bis heute einen prägenden Einfluss hat, ist keine neue Erkenntnis. Die immerwährende Unterscheidung in Schurken und Helden bestätigt kollektive Erinnerungen, wobei sich jede Nation, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in der Rolle des Helden wiederfindet.
Die Geschichte von „Helden“ und „Ungeheuern“ ist aber nur der Ausgangspunkt in der glänzenden Untersuchung des britischen Historikers Keith Lowe, der sich eines gigantischen Themas angenommen hat: der globalen Aus- und Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs. Schon bei diesen Stichworten untergräbt Lowe gerne gepflegte Mythen der Geschichte, wenn er festhält, dass natürlich soldatische „Helden“ auch furchtbare Verbrechen begingen, dass es neben den Judenrettern eben auch die Verräter gab, die Menschen ans Messer lieferten. Letztere Erinnerungen aber sind in den Narrativen der Nationen absichtsvoll verloren gegangen.
Lowes Anmerkungen zu „Helden“ und „Ungeheuern“ sind nur der Prolog für seine Untersuchung über die Folgen des größten Schlachtens in der Menschheitsgeschichte, die weit über das Offensichtliche hinausgehen. Das Buch zeigt auf, dass wesentliche Entwicklungen nicht nur politischer Art ihre Grundlage im Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen haben. Dazu zählen insbesondere die Entkolonialisierung, der Nationalismus und die globale Migration – aber auch der Wille, die politischen Verhältnisse nach den Schrecken des Krieges umfassend zu verändern.
Ein kenianischer Bauernsohn in der britischen Armee
Da ist zum Beispiel Itote, der Sohn eines kenianischen Bauern. In der britischen Kolonie stieß der junge Mann überall auf Verbote. Er bekam für sein Geschäft keine Konzession, er durfte keine Toiletten für Weiße benutzen, selbst der Konsum bestimmter Biersorten war ihm untersagt. Im Krieg ließ er sich in die britische Armee werben und kämpfte im Grenzgebiet von Indien mit Birma.
Keith Lowe: „Furcht und Befreiung“. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer und Thorsten Schmidt. Klett-Cotta, Stuttgart 2019, 592 Seiten, 30 Euro
Hier widerfuhren Itote einige nachhaltige Erkenntnisse: die Kameradschaft zwischen Menschen verschiedener Hautfarben etwa, aber auch die Tatsache, dass die Briten nicht nur sein Land, sondern weite Teile Asiens in Besitz genommen haben. Der Krieg ging zu Ende, Itote kehrte nach Kenia zurück, wo noch immer das gleiche Verbotsregime bestand. Und er schloss sich einer Bewegung an, die für mehr Rechte für Schwarze kämpfte, Ergebnis seiner im Krieg gemachten Erfahrungen.
Itote radikalisierte sich, nahm an einem Aufstand teil, kam ins Gefängnis und entging nur knapp der Todesstrafe. Doch am Ende war er einer von vielen – darunter eine bemerkenswerte Zahl an Kriegsteilnehmern –, die die Unabhängigkeit Kenias erkämpften.
Jedes Kapitel führt Keith Lowe mit einem solchen Protagonisten ein. Auch das macht sein Buch mit all seinen zwangsläufig darin enthaltenen Schrecken zu einer spannenden Lektüre. Der Autor erdet damit quasi seine Analysen mit realen Menschen, ihrer Verzweiflung, ihrem Mut und ihrem Können – und er zeigt die Möglichkeiten auf, die nach 1945 für den Einzelnen bestanden.
Dabei verschweigt Lowe nicht, dass die Entkolonialisierung natürlich nicht einzig ihre Ursache im Weltkrieg hatte. Aber der Krieg war der Impulsgeber für diese Freiheitsbewegung ebenso wie für die Gründung supranationaler Organisationen wie der Vereinten Nationen – allerdings auch für ihr Gegenteil, den überbordenden Nationalismus.
Die Sieger waren bald verfeindet
Weder die Sieger – schon bald in zwei Blöcken miteinander verfeindet – noch die bis dahin im Süden Unterdrückten konnten nach den Kriegserfahrungen einen Grund dafür erkennen, warum sie dieses Modell imaginärer Gemeinschaften in Frage stellen sollten, im Gegenteil: Die Berufung auf die Nation hatte die einen zum Sieg geführt, das Bekenntnis zur Nation sollte den anderen die Befreiung ermöglichen.
Einzig für das kriegszerstörte Europa erkennt Lowe mit der Entwicklung der EU eine Sonderbewegung, aus der Not geboren, um einen Krieg auf dem Kontinent für immer unmöglich zu machen, aber, wie der Autor bedauernd zur Kenntnis nimmt, inzwischen von Nationalisten wieder infrage gestellt, die zudem im Gefühl der Sorge um ihre behaupteten Gemeinschaften der globalen Migration den Kampf angesagt haben – als könne man das Meer dazu zwingen, seine Wellenbewegungen einzustellen.
Und so wäre dieses meisterliche Buch eine ziemlich deprimierende Lektüre, wenn Lowe seinen gewichtigen Ausflug in die bis heute andauernde Nachkriegsgeschichte nicht mit einem Manifest beenden würde: einem Aufruf zum eigenen Denken, zum Überwinden der Mythen und Infragestellung der „Helden“.
Da schreibt Lowe etwas, was eigentlich selbstverständlich sein sollte, es aber nicht ist: „Echte Freiheit verlangt von uns, aus der Masse herauszutreten und ihr gelegentlich sogar die Stirn zu bieten und nach Möglichkeit selbst zu denken. Sie zwingt uns dazu, das, was wir verloren haben, ungeschönt zur Kenntnis zu nehmen, einzusehen, dass auch wir Fehler gemacht haben und für unser Leid mitverantwortlich sind. Ein freier Mensch ist ein Mensch, der schwer an Verantwortung und unangenehmen Wahrheiten zu tragen hat.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé