Flutkatastrophe in Russland: „Was wird aus uns?“
Nach dem Dammbruch in Russland am Ural wollen die Menschen Antworten von ihrer Regierung. Doch der Gouverneur weist jegliche Verantwortung von sich.
„Wir wollen nur eins wissen: Was wird aus unseren Häusern? Was wird aus uns?“, schreit eine Frau fast. „Wie sollen wir weiterleben? Wer übernimmt die Verantwortung?“, fragt ein Mann. Sie sind wütend, weil sie sich auf sich allein gestellt fühlen. Die Behörden hatten die Menschen gewarnt, bloß nicht bei einer „nicht sanktionierten Versammlung“ mitzumachen. Vor dem ansteigenden Wasser des Urals warnten sie die Menschen dagegen zu spät. Dieser Unmut treibt die Orsker*innen auf die Straße, in einem Land, in dem demonstrieren gefährlich ist und Fragen unerwünscht sind.
Die Frauen und Männer umkreisen Wassili Kosupiza, wollen Antworten von ihrem Bürgermeister. Er war es, der sie noch am vergangenen Mittwoch zur Ruhe bringen wollte. Der Damm werde schon halten, es gebe keine Gefahr, hatte dieser gesagt. Keine zwei Tage später stand die Altstadt von Orsk komplett unter Wasser. Kosupiza kommt bei diesem spontanen Protest kaum zu Wort. Antworten kann er nicht liefern. „Verschwinde“, schreien die Menschen. „Tritt ab!“, „Schande!“.
Orsk ist eine politisch verschlafene Stadt. Wenn hier Menschen auf die Straße gehen, dann sind es keine Forderungen nach mehr Freiheiten und Menschenrechten, es geht ihnen schlicht ums Überleben. Es geht um Wasser und Brot, um Gas und um Strom. Es geht um ein Dach über dem Kopf – und doch auch um etwas Politisches: Die Verantwortung dafür, dass hier trotz Bedenken, auch aus dem benachbarten Kasachstan, offensichtlich vieles schiefgelaufen ist. Deshalb fordern sie den Rücktritt ihres Bürgermeisters.
Anmaßende, verächtliche Floskeln aus den Behörden
Die Mächtigen aber sind in der Kommunikation mit den Menschen kaum geübt. Wie losgelöst sie von den Problemen des aufgebrachten Volkes sind, zeigt sich auch in Orsk, als Denis Pasler, der Gouverneur des Gebietes Orenburg, zu einigen Demonstrant*innen spricht. „Das sind halt die Bedingungen, unter denen wir leben. Es gab den Herbst, den Winter, den Regen und jede Menge anderer Faktoren“, sagt er in der Orsker Stadtverwaltung. Eine „unkontrollierbare Horde“ aber wolle „einen einzigen Verantwortlichen finden“, meint er. Diesen „einzigen“ werde es nicht geben. „Wir sind alle schuld. Jetzt sollten wir uns als echte Patrioten vereinen, das überstehen und als stärker Gewordene da rausgehen.“
Es sind anmaßende, ja verächtliche Floskeln, die weder Verständnis noch Mitgefühl für das Leid der Menschen ausdrücken. Pasler schaut starr ins Gesicht der Notleidenden und sagt herablassend: „Glaubt ihr, ihr seid die Einzigen, die darunter leiden? Ich habe meinen ersten Urlaub seit fünf Jahren nicht angetreten, bin hier bei euch, hatte keine Zeit, mich zu waschen, mich umzuziehen. Der ganzen Region geht es nicht gut.“ Entwertung und Bagatellisierung der Sorgen von anderen sind alltäglich in Russland.
Eine Schuld will niemand eingestehen. Aber einen Schuldigen finden will jeder. Pasler verspricht, dass „alles wiederhergestellt“ werde, sagt, Kompensationen würden ausgezahlt. Was seine Sätze allerdings für jeden einzelnen bedeuten, wird keinem klar. „Wo liegen denn diese Listen aus, von denen sie alle sprechen? Wo kann ich mich eintragen, damit ich wenigstens die 50.000 Rubel (umgerechnet 500 Euro) für mein verlorenes Vermögen bekomme? Ich werde von einer Notunterkunft zur nächsten geschickt“, schreibt eine Frau namens Julia in einem Orsker Chat.
Die Wasserpegel steigen derweil weiter. Nun nicht mehr in Orsk, sondern weiter westlich. Das Wasser zieht in die Gebietshauptstadt Orenburg, deren Bürgermeister seinen Einwohner*innen immerhin deutlich sagt: „Es wird so schlimm wie nie.“
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