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Flug der Kümmersucht

Der Stasi-Spitzel, der mich liebte: „Berlin Bertie“ von Howard Brenton in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin  ■ Von Sabine Seifert

Erst hat sie die Kümmersucht, und nun braucht sie Drogen. Alice ist eine abgehalfterte Sozialarbeiterin, vom Dienst suspendiert, weil ihr ein Baby unter den kümmerlich kümmernden Händen weggemordet wurde. Rosa, ihre Schwester, hat auch die Kümmersucht, sie ist Psychologin, dazu verheiratet mit einem Pastor. Sie betet viel. Heißgeliebter Jesus. Rosa lebt oder vielmehr lebte in Ostberlin, wo sich ihr Stasi-Agent in sie verliebt hat, nur so durch's Abhören, und er offenbart sich ihr und auch gleich, daß der nette Pastorengatte ebenfalls für die Firma gearbeitet hat. Also geht Rosa zurück nach London, zu Alice, die mit dem Glatzkopf Sandy und einer davongelaufenen Möchtegernpantomimin namens Joanne in einer heruntergekommenen Neubauwohnung haust. Dort hat der inzwischen zum holländischen Geschäftsmann gewandelte Ex-Agent, der sich nach Bertolt Brecht schlicht „Bertie“ nennt, noch einmal einen kurzen Auftritt. Abgang. Und die drei Frauen machen die Fliege.

Howard Brenton, englischer Erfolgsautor des Jahrgangs 1942, dessen Perestroika-Stück „Moscow Gold“ vor vier Jahren Furore machte, ist einmal in Berlin Straßenbahn gefahren. Und dabei ist ihm diese oder eine ähnlich sonderbare Geschichte wie die von Stasi-Bertie zu Ohren gekommen. Doch gerade ihre vorgebliche Authentizität läßt sie vordergründig und spektakulär erscheinen, da sie völlig aus dem Zusammenhang gerissen wird. Denn Schauplatz von Brentons jüngstem Stück, bereits vor knapp einem Jahr in London uraufgeführt, ist nicht Berlin, sondern die britische Hauptstadt mit ihren Elendsvierteln und Elendsgestalten. Die Verbindung London–Berlin wird via Rückblende hergestellt, ist ansonsten wenig wahrscheinlich und wenig erhellend. In den Mittelpunkt des Stücks rücken die beiden Schwestern Alice und Rosa, die trotz Altersunterschieds und so verschiedener Biographien eine ironisch-lebenskluge Art behauptet haben. Diese verdankt sich wiederum den beiden Schauspielerinnen Katrin Klein (Alice) und Margit Bendokat (Rosa), die in dieser ansonsten biederen und bislang unbeholfenen Inszenierung anregende Appetithäppchen und kleine Muntermacher verteilen.

Als solche sind wohl auch die Liedeinlagen zur Gitarre gedacht, die von zwei als NVA-Soldat und FDJ-Pionier uniformierten Schauspielern hübsch vorgetragen werden. Sie schunkeln mit solchen Liedern aus dem politischen Alltag à la „Große Fenster wünsch' ich allen Menschen...“ auf der DDR-Nostalgiewelle mit; auch das Abendrot am Ende reicht nicht, den Kitsch ironisch zu brechen. Der Bühnenbildner Donald Becker hat der heruntergekommenen Wohnung die üblichen Blechdosenarrangements verpaßt, die Kleidung der Darsteller ist malerisch zerlumpt.

Vor allem das Mädchen Joanne (Kathi Liers) macht mit dem weiß geschminkten Gesicht und den schwarz angemalten Lippen eine traurige Figur. Ein mageres Vögelchen mit lahmen Flügeln. Kaum mag man Joanne diesen kindlichen Trotz abnehmen, der sie das Wegfliegen und Ausbrechen zumindest mimisch-akrobatisch ausprobieren läßt. Und schon gar nicht traut man ihr die Überzeugungskraft zu, die anderen beiden Frauen mit ihren hochfliegenden Plänen anzustecken und zum Abhauen zu überreden. Das Stück läßt offen, ob es sich bloß um einen Traum vom Fliegen in der eigenen Bruchbude handelt oder um einen echten Ausbruchversuch. Der Regisseur Sewan Latchinian dagegen versucht, ihm eine märchenhafte, aber eindeutige Wendung zu geben: Die drei Schauspielerinnen entschweben in den Bühnenhimmel.

Es heißt, Howard Brenton arbeitet an einem neuen Stück für das renommierte Deutsche Theater in Berlin. Ein Zeitstückautor in der Tradition des Realismus, der notwendigerweise schnell produziert und reagiert. Diese realistische Konzeption kann Übertreibungen oder Zuspitzungen verkraften. Eins verträgt sie aber nicht: Ungenauigkeit, kein Interesse für das örtliche Detail und das Interieur ihrer Figuren. In London mag die Geschichte von Berlin- Bertie interessant scheinen, hier in Berlin wirkt sie einfach bloß unwahrscheinlich.

Howard Brenton: „Berlin Bertie“. Regie: Sewan Latchinian. Bühne: Donald Becker. Mit Margit Bendokat, Katrin Klein, Kathi Liers, Kay Schulze, Karl Kranzkowski. Kammerspiele des Deutschen Theaters Berlin.

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