Flüchtlingsboot aus Libyen: Notrufe einfach ignoriert
Der Europarat wirft Italien, der Nato und Libyen vor, ein Flüchtlingsboot im Stich gelassen zu haben. Trotz Notrufen sind 60 Menschen im Mittelmeer ertrunken.
BRÜSSEL taz | Der Bericht des Europarats ist vernichtend: Die Nato, Italien und Libyen haben vor rund einem Jahr über 60 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken lassen, obwohl sie mehrere Notrufe erreicht hatten.
Das ist das Ergebnis einer Untersuchung der niederländischen Senatorin Tineke Strik. Sie hat im Auftrag des Europarats neun Monate lang versucht zu rekonstruieren, was Ende März 2011 zwischen der libyschen und italienischen Küste passiert ist. Die Ergebnisse lesen sich wie ein schlechter Krimi.
Ein Boot mit 72 Flüchtlingen war am 26. März in Tripolis gestartet mit dem Ziel Lampedusa. Dort kamen die Menschen aus Eritrea, Äthiopien und anderen afrikanischen Ländern aber nie an. Als sie rund 18 Stunden nach ihrer Abfahrt in schlechtes Wetter gerieten, nahmen sie über Satellitentelefon Kontakt zu einem eritreischen Priester in Rom auf.
Der gab ihr Hilfsgesuch mehrfach an den italienischen Grenzschutz weiter. „Die Behörden haben das Boot lokalisiert und das Hilfsgesuch an alle Schiffe – darunter auch Nato-Boote – weitergegeben. Aber niemand hat den Flüchtlingen geholfen“, so Strik.
Besonders grausam ist der Verdacht, dass kurz nach dem ersten Hilfsgesuch ein Militärhubschrauber Nahrung und Wasser über dem Boot abgeworfen haben soll. „Alle Überlebenden erzählen, dass dieser Hubschrauber da war, aber nicht wiedergekommen ist.“
15 Tage dauerte die Irrfahrt des Flüchtlingsbootes im Mittelmeer. Mindestens zwei Fischerboote und ein Nato-Schiff sollen nach Angaben der Flüchtlinge in dieser Zeit auf Sichtweite herangekommen sein. „Den Militärs haben die Flüchtlinge sogar die toten Babys gezeigt“, sagt Strik. Geholfen hat trotzdem niemand. Schließlich wurde das Boot an die libysche Küste zurückgetrieben. An Bord waren 9 Überlebende und 61 Leichen.
„Wir konnten nicht klären, welches Nato-Schiff in der Nähe war. Auch den Hubschrauber will niemand geschickt haben.“ Einsicht in die militärischen Datenbanken habe sie nicht bekommen. „Von einem spanischen Nato-Schiff, das nur 11 Seemeilen entfernt war, haben wir die Auskunft bekommen, es hätte keinen Notruf erhalten. Die Nato-Zentrale behaupte, sie habe die Meldung an alle Schiffe verschickt. Da stimmt etwas nicht“, sagt Strik.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja