Flüchtlinge in Serbien: Eine Niere für die Reise nach Westen
Flüchtlinge zahlen Schleppern 5000 Euro für den Traum von der EU - um in Serbien zu stranden und im Müll zu leben. Dennoch versuchen viele es immer wieder.
BANJA KOVILJACA taz | Ein Eis, kalt, süß, lecker. Zum ersten Mal im Leben. Die Gesichter der Kinder strahlen, wenn sie daran schlecken. Den Eisverkäufer hier im westserbischen Banja Koviljaca rührt das. Denn er weiß: Diese Kinder haben eine lange, ungewisse Reise hinter sich, bei der sie hätten sterben können. "Das sind unsere Asylanten", sagt der Eisverkäufer lächelnd, als ob es sich um eine Sehenswürdigkeit handeln würde.
Seit Jahrzehnten verirrt sich kaum ein Ausländer nach Banja Koviljaca, einem typischen serbischen Kurort, etwas heruntergekommen. Und doch umweht ihn noch ein Hauch alter K.-u.-k.-Herrlichkeit. Die alte Pracht lässt sich vor allem in der Parkanlage erkennen, in dem jetzt Gruppen von dunkelhäutigen Asylanten herumliegen. Da steht der bekannte "Kursalon". Er wurde von der serbischen Königsfamilie Karadjordjevic genutzt, eine Weile war er auch ein Bordell der gehobenen Klasse.
Einst wurden in Banja Koviljaca Leidende gegen Rheuma oder Unfruchtbarkeit behandelt. Umso ungewöhnlicher erscheinen die aus der Ferne gekommenen Passanten auf den Straßen: dunkelhäutige junge Männer, offensichtlich afrikanischer Herkunft, Frauen in traditioneller arabischer Tracht, schwarze Kinder, die fröhlich in der Sonne mit dem Ball spielen.
Bis vor kurzem befand sich in Banja Koviljaca mit seinen rund 5.000 Einwohnern das einzige Asylbewerberwohnheim Serbiens mit 85 Betten. Erst vor einem Monat ist wegen dem immer größeren Andrang von Asylbewerbern auch ein zweites mit Unterkunftsmöglichkeiten für 120 Menschen in Bogovaca eröffnet worden. Beide reichen sie bei Weitem nicht aus. Im Juni gab es in Serbien 1.087 registrierte Asylbewerber, zehnmal mehr als im Vorjahr. Die Beziehungen der Asylbewerber mit der lokalen Bevölkerung seien jahrelang gut gewesen, erzählt der Eisverkäufer. Nie habe es irgendwelche Probleme gegeben. Doch in letzter Zeit sei die Stimmung richtig böse, angespannt, es gab Prügeleien zwischen den Einheimischen und den dunkelhäutigen Ausländern. Die Polizei musste eingreifen.
Suche nach Routen via Google
Das vom UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR mitgegründete Asylheim in Banja Koviljaca ist randvoll. Dutzende Asylbewerber schlafen auf der Straße, in Parks, in verlassenen Gebäuden. Immer öfter werden sie von lokalen Banden angegriffen. Eine Gruppe Einheimischer hat eine Petition unterzeichnet, um die Asylbewerber loszuwerden. Dagegen haben sich die Flüchtlinge organisiert. Sie wollen sich gegen weitere Überfälle verteidigen. Seitdem die Polizei energischer eingreift, hat sich die Lage etwas beruhigt.
Die Transversale: Serbien liegt auf der "Asien-Transversale", die vom Nahen und Mittleren Osten über die Türkei nach Europa führt. Auf dieser Achse ziehen Emigranten von der Arabischen Halbinsel, Äthiopien und Somalia bis nach Europa. Noch vor dem Umbruch in Nordafrika wurden 48.000 Asylanträge in Griechenland erfasst, zwischen 45.000 und 54.000 befanden sich auf der Warteliste. Wegen der Krise in Griechenland versuchen immer mehr Emigranten, auf eigene Faust über Serbien in den Westen zu gelangen.
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Die Hoffnung: Die Statistik besagt, dass über 90 Prozent der Asylbewerber aus wirtschaftlichen Gründen aus ihren Heimatländern fliehen. Oft sammelt ein ganzes Dorf oder eine ganze Familie Reisegeld für ein Mitglied der Gemeinschaft, das im Stande sein könnte, es in ein EU-Land zu schaffen. Die Hoffnung: Er könnte im reichen Westen vielleicht genügend Geld verdienen, um es seiner Sippe schicken zu können. Wirtschaftsgründe sind jedoch nicht ausreichend, um einen Asylbewerberstatus zu bekommen. Deshalb werden weltweit nur zwischen ein und fünf Prozent aller Asylanträge positiv bewertet. (aiv)
Am Abend sind die zwei Internetcafés in dem kleinen Ort zum Bersten gefüllt. Man hört arabische Dialekte. In dem orientalischen Sprachenwirrwarr identifiziert der Kellner auch Paschtu und Dari, die in Afghanistan gesprochen werden. "Ich kenne mich mittlerweile aus", sagt er. An den Computern sitzen vorwiegend junge Männer. Sie skypen oder schauen sich Google-Landkarten an. Wenn man genauer hinschaut, erkennt man die Grenzgebiete Serbiens. Sie suchen nach Routen, die über Ungarn, Kroatien oder Slowenien nach Österreich und weiter Richtung Westeuropa führen. "Sie wollen alle, so schnell es geht, weg von hier", sagt der Kellner.
Das ist verständlich. Im Asylheim gibt es keine freien Betten. Wer Geld hat, mietet ein Zimmer in einem der im Winter menschenleeren Hotels des Kurorts. Im Sommer, wenn es mehr Kurgäste gibt, ist das schwieriger. Viele können sich das ohnehin nicht leisten.
Unter einer Tanne in der Nähe des Denkmals für gefallene Kämpfer am Ortsrand liegt ein Mensch in einem improvisierten Zellophanzelt. In einem halbfertigen Gebäude in der Stadt hockt der junge Algerier Ali. Nachts macht er Feuer in einer Metalltonne, die zerbrochenen Fenster sind mit Pappe überdeckt. Als sein Handy schrill läutet, sagt er uns, dass wir gehen sollen.
5000 Dollar für eine Niere
Ein anderes verlassenes Haus ist voller Müll. Doch hier leben Menschen. In einem Raum sitzen auf alten Matratzen und Kisten einige Flüchtlinge aus Somalia, Palästina und Afghanistan. Etwa dreißig sind es, einige seien gerade unterwegs, um Nahrung zu finden, sagt einer.
Manche von ihnen waren schon im serbischen Asylheim untergebracht. Sie sind jedoch geschnappt worden bei dem Versuch, die Grenze nach Ungarn illegal zu überqueren. Die Polizei schaffte sie zurück nach Serbien. Laut Gesetz dürfen sie dann nicht mehr in dem Heim aufgenommen werden.
Der Palästinenser Ahmed krempelt sein Hemd hoch und zeigt eine breite Narbe. "Ich habe in Syrien meine Niere für 5.000 Dollar verkauft, um nach Europa zu kommen", erzählt er. Ein Schmuggler habe ihm alles Geld genommen und versprochen, ihn nach Ungarn zu bringen. Vor der Grenze zu Ungarn hat er ihn jedoch auf der serbischen Seite sich selbst überlassen.
In einer Kneipe sitzt eine Gruppe aus Afghanistan. "Warum wir aus Afghanistan geflüchtet sind? Braucht man da einen besonderen Grund? Schaut ihr überhaupt Fernsehen?", sagt Resa. Der junge Mann ist etwa 20 Jahre alt und hat kurz geschorene Haare. Er ist der einzige, der Englisch spricht, und wird als der Anführer der afghanischen Gruppe anerkannt.
Resa hat schon vier Mal versucht, nach Westeuropa zu kommen. Immer wieder ist er zurück nach Griechenland deportiert worden. "Der übliche Preis daheim ist 5.000 Dollar. Dafür sollte dich der Schmuggler in ein EU-Land bringen", erzählt er.
Wer besser bezahlt, wird in einem Lkw geschmuggelt
Für weniger Geld wird man in die Türkei gebracht oder nach Serbien. Dann muss man selbst schauen, wie man weiterkommt. Manche sterben unterwegs in überfüllten Booten auf dem Meer zwischen der Türkei und Griechenland. Alle registrierten Asylbewerber in Serbien sind auf ihrem Weg Richtung Westen aus verschiedenen Gründen stecken geblieben. Niemand hatte die Absicht, in Serbien zu bleiben.
Wer besser bezahlt, wird in einem Lkw oder einem Auto über die Außengrenze der EU geschmuggelt. Drei Mahlzeiten täglich soll man dabei erhalten. Für weniger Geld wird man bis zur EU-Grenze gebracht, die die Flüchtlinge dann selbst überqueren. Wenn sie es schaffen, nehmen sie in der EU wieder Kontakt mit dem Schmugglern auf. Die helfen ihnen dann, im EU-Binnenraum weiterzukommen.
Die Schmuggler verfolgen auch die Lage in Asylbewerberwohnheimen am Rande der EU. Über das Internet knüpfen sie Kontakte mit potenziellen Kunden. In der Abteilung der serbischen Polizei, die für den illegalen Grenzverkehr zuständig ist, heißt es, es sei fast unmöglich, der Internetkommunikation zwischen Schmugglern und Asylanten auf die Spur zu kommen.
"Der Andrang von Asylanten auf Serbien steigt von Jahr zu Jahr", sagt Rados Djurovic, der Direktor des Zentrums für den Schutz von Asylbewerbern. Im Vorjahr seien offiziell in Serbien 522 Asylanträge gestellt worden, zehnmal mehr als im Jahr 2008. In diesem Jahr waren es schon im Juni über 1.000. Inoffiziell aber zogen mindestens vier- bis fünfmal mehr Menschen durch Serbien, illegal natürlich.
Rund 14 Prozent der registrierten Asylbewerber in Serbien sind den offiziellen Zahlen zufolge Minderjährige, die ohne Begleitung gekommen sind. In diesem Jahr befürchtet Djurovic eine Asylantenwelle, wie er es nennt, vor allem aus Afghanistan, aber neuerdings auch aus Libyen, Syrien oder Tunesien. Dem dürfte das ohnehin sozial ruinierte Serbien nicht gewachsen sein. Schließlich leben in Serbien noch einige Hunderttausende serbische Flüchtlinge aus Kroatien und dem Kosovo.
Wer die Schulden nicht begleicht, wird zum Sklaven
Serbien hat keine Rechtsgrundlage, um die illegalen Flüchtlinge wieder in ihre Heimatländer zurückzubringen, weil es kein Mitglied des Eurodac ist. Dies ist eine europäische Datenbank zur Speicherung von Fingerabdrücken von Asylbewerbern oder Ausländern aus Drittländern, die bei der illegalen Überschreitung einer Außengrenze eines EU-Mitgliedstaats angetroffen werden. Die Datenbank umfasst auch Menschen, die sich illegal im EU-Raum befinden.
Eine Datenbank oder eine Statistik kann jedoch nicht die Tragik erfassen, die sich aus den Geschichten der Asylbewerber erahnen lässt. Wie die Geschichte von Resa. Er hat es nicht aufgegeben, in die EU zu gelangen, obwohl er geld- und mittellos in Banja Koviljaca stecken geblieben ist. Im Internet sucht er nach einer Möglichkeit, weiterzukommen. Auch wenn er sich bei einem Schmuggler verschulden muss. Und obwohl er sich bewusst ist, dass er zum Sklaven wird, wenn er die Schulden nicht begleichen kann.
In der Kneipe haben sich die Münder von vielen gelockert. Resa übersetzt die Horrorgeschichten der anderen: über Zwangsrekrutierung in die Armee der Taliban oder die Ausbildung zum Selbstmordattentäter. Über Blutrache und den Hass zwischen Schiiten und Sunniten.
Einige an die Heizung angelehnte Somalier schalten sich in das Gespräch ein. Sie meinen, dass in ihrem Heimatland weder die Gesetze Gottes noch irgendwelche andere gelten. Eine kurze Zeit wird darüber diskutiert, wessen Schicksal düsterer sei. Die Szene wird surrealistisch. Mitten in einem serbischen Kurort.
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