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Flüchtlinge aus TunesienUm keinen Preis zurück

Glück im Unglück: Nach ihrer Flucht aus der Heimat landeten die Tunesier Saber und Khaled bei Anna Maria in der toskanischen Idylle.

Olivenhaine, Zypressen, Toskana: Saber und Khaled haben Glück gehabt. Bild: Michael Braun

FLORENZ taz | "Eine Achterbahn." Saber braucht nicht viele Worte, um seine Fluchtgeschichte zusammenzufassen, die ihn von Tunesien erst nach Lampedusa, dann ins Asylbewerberheim nach Florenz führte. Villa Pieragnoli lautet jetzt seine Adresse. Die "Villa" ist ein schlichter, beige gestrichener Zweckbau, gelegen in der extremen Peripherie der Renaissancestadt - doch was für eine Peripherie! Ein Lächeln huscht über Sabers Gesicht, als er auf die große Terrasse tritt. "Ich habe Glück gehabt." Olivenhaine, Zypressen, Wiesen, dahinter die malerischen Türme von Fiesole: Saber und sein Freund Khaled sind mitten in toskanischer Idylle untergebracht.

Saber meint, die Achterbahn habe ihn ein ganzes Stück nach oben getragen, und Khaled nickt: "Hier stimmt alles. Das Essen ist prima, die Betten sind prima." Und Anna Maria, die Heimleiterin, "die ist eine richtige Mama. Wenn ich sie anschaue, dann sehe ich meine Mutter vor mir."

Vier Monate liegt der große Flüchtlingszustrom übers Mittelmeer, von Tunesien nach Lampedusa, mittlerweile zurück. Etwa 24.000 Menschen kamen, vor allem junge Männer wie der 23-jährige Saber und der vier Jahre ältere Khaled, und wurden erst tagelang auf Lampedusa festgehalten, dann auf Italiens Regionen verteilt und mit einer provisorischen Aufenthaltserlaubnis ausgestattet. Die meisten zogen gleich weiter, über die französische Grenze Richtung Paris, Lyon oder Bordeaux. Nur die wenigsten blieben.

"Bei der Überfahrt nach Lampedusa hatte ich furchtbare Angst", erinnert sich Khaled, dann spricht er in dürren Worten davon, wie der Motor des kleinen Bootes den Geist aufgab, wie sie drei Tage für die Reise brauchten, beherrscht von dem Gedanken, dass die Flucht in einer Katastrophe enden könnte. Im Jahr 2008 hatte er es schon einmal probiert, von Libyen aus, "aber damals wurde ich direkt wieder aus Italien nach Tunesien zurückgeschafft".

Auto verkauft

Eigentlich hatte er damals gedacht, das sei es gewesen. Doch dann kam die Revolution in Tunesien, wurde Ben Ali gestürzt, stachen in den Wochen des chaotischen Übergangs Dutzende Boote mit Flüchtlingen von Sfax oder Zarzis in See. Kurz entschlossen setzte sich Khaled, der in Tunis als Friseur arbeitete, ins Auto, fuhr nach Sfax, verkaufte den Wagen, um die 750 Euro an die Schleuser bezahlen zu können. "Ich habe nichts mehr in Tunesien", er zögert einen Moment, "aber vorher hatte ich eigentlich auch nichts.

15 Jahre Arbeit - und trotzdem bekam ich das bisschen Geld nicht zusammen, das mir erlaubt hätte zu heiraten." Jetzt will er nach Marseille, da lebt sein Vater. Doch anders als die meisten seiner Landsleute hat er noch keine provisorische Aufenthaltserlaubnis bekommen. Jeden Tag spricht er auf dem Polizeipräsidium vor, "doch die sagen, es gibt Probleme mit den Fingerabdrücken". Khaled fühlt sich wie ein Gestrandeter.

Nicht viel anders geht es Saber, auch wenn der gar nicht nach Frankreich will. Der hagere junge Mann mit dem schmalen Gesicht schaut mit müdem Blick, seine Stimme klingt resigniert. "Schlafen und essen, essen und schlafen" - das sei sein Tagesablauf. "Dabei bin ich froh, hier gelandet zu sein", meint er. Lampedusa dagegen sei einfach furchtbar gewesen, ganz unten auf der Achterbahn.

Mehrere Tage hätten er und Hunderte andere Neuankömmlinge auf dem Hügel direkt über der Hafenmole schlafen müssen, unter freiem Himmel, geschützt nur durch ein paar Plastikplanen - während die Berlusconi-Regierung in Rom untätig zuschaute. "Doch die Menschen in Lampedusa haben uns geholfen, wo sie konnten, mit Essen, mit Wasser", bilanziert er und fügt gleich hinzu, in Tunesien hätten nur kurz darauf mehr als 200.000 Flüchtlinge aus Libyen Aufnahme gefunden.

Dann aber schoss die Achterbahn steil nach oben. "Einfach Wahnsinn", fällt ihm nur zu der Fähre ein, die ihn in die toskanische Hafenstadt Livorno brachte. "Fünf Sterne" verleiht er dem Schiff, "die Kabinen waren wunderschön, es gab bestes Essen an Bord, dazu noch Tabak gratis für alle Raucher".

Wechselbäder, die die italienische Flüchtlingspolitik immer wieder bereithält: Kalkül, Willkür oder auch Zufall entscheiden darüber, wie human - oder wie inhuman - die Ankömmlinge behandelt werden. Khaled und Saber hatten gleich doppelt Glück. Der erste Glücksfall für sie war es, dass sie die Überfahrt Ende März angetreten hatten. Nur einige Tage später, und ihre Flucht hätte sofort ein völlig anderes Ende genommen. Anfang April nämlich einigte sich die italienische mit der tunesischen Regierung. Der Kompromiss: Wer es bis zum 5. April nach Italien geschafft hatte, sollte die provisorische Aufenthaltserlaubnis von sechs Monaten bekommen. Alle Tunesier, die später eintrafen, galten als Illegale, wurden in Abschiebelagern weggesperrt und werden nach und nach zurückgeflogen.

Tränengas auf Zelte

Eines dieser Lager liegt in Kinisia in der sizilianischen Provinz Trapani; Journalisten haben dort auf Weisung des Innenministers Roberto Maroni striktes Zutrittsverbot. Doch der Oppositionsabgeordnete Jean-Leonard Touadi konnte das Camp besichtigen. "Die Absperrung besteht aus drei Reihen von Containern, eine über die andere gestapelt", berichtet er. Kein Baum, kein Strauch weit und breit, die Schatten spenden könnten, zwei Reihen von Großzelten, in denen 48 Tunesier noch Ende Juni bei brütender sizilianischer Sommerhitze auf den Tag ihrer Abschiebung warten. Nicht einmal eine Kantine, einen Gemeinschaftsraum gibt es.

"Selbst der Schäfer, der hier nebenan arbeitet, würde seine Schafe nie und nimmer so behandeln", bilanziert Touadi bitter. Gleich mehrere dieser menschenunwürdigen Lager ließ die italienische Regierung errichten. Im Camp von Santa Maria Capua Vetere, nördlich von Neapel, rebellierten Anfang Juni die dort weggesperrten 90 Tunesier; die Polizei feuerte Tränengasgranaten - und setzte so die Zelte in Brand.

Das zweite Mal hatten Saber und Khaled Glück, als sie auf die Fähre Richtung Livorno kamen. Das hieß: Unterbringung in der Toskana. Innenminister Maroni hatte die Verteilung der Flüchtlinge mit Bleiberecht auf alle italienischen Regionen durchgesetzt. Ihm schwebte in jeder Region ein Großlager vor. In der Toskana, wäre es nach Maroni gegangen, sollten Hunderte Flüchtlinge auf einem früheren Kasernengelände untergebracht werden.

Doch der linke Präsident der Region, Enrico Rossi, spielte nicht mit. Anna Maria Tedde, die Leiterin der Villa Pieragnoli, spricht denn auch vom Modell Toskana. Statt sie in ein Großcamp zu pferchen, verteilte die Regionalregierung die Flüchtlinge auf alle Kommunen der Toskana - kleine Gruppen in kleinen Einrichtungen.

Solche wie die Villa Pieragnoli: Schon seit zehn Jahren ist hier die Caritas gemeinsam mit dem linken Verband ARCI in der Betreuung von Asylbewerbern oder Kriegsflüchtlingen aktiv. Mittags sitzen gut 50 Menschen im Speisesaal, unter ihnen eine Schar Kleinkinder. Aus Aserbaidschan, Eritrea, dem Kosovo oder Ghana stammen sie. Die Caritas-Helfer servieren erst ein Kräuterrisotto, dann Truthahnhamburger. Auch die beiden Tunesier sitzen mit am Tisch.

Dennoch: Saber empfindet sich als Flüchtling zweiter Klasse. Er ist nicht im regulären Asylprogramm - "und das heißt, dass ich zum Beispiel keinen Cent Taschengeld kriege". Er fährt mit der Hand durch seine Locken. "Nicht einmal zum Friseur kann ich gehen - und Geld für Zigaretten habe ich auch nicht." Vor allem aber peinigt ihn das Gefühl, einen bloß provisorischen und keinen sicheren Hafen gefunden zu haben. Anders als Khaled will er nicht nach Frankreich. "Ich habe dort keinen Menschen, ich habe überhaupt in ganz Europa keinen Menschen." Den Goldschmuck seiner Mutter versetzte er zu Hause, um die Bootspassage zu bezahlen. Seine Hoffnung war es, in Italien schnell Arbeit zu finden. In Tunis an der Universität studierte er im zweiten Jahr Geografie - "aber das konnte ich mir einfach nicht mehr leisten, seit meine Mutter schwer erkrankt ist".

Doch jetzt? "Hier sind die Tage immer gleich. Schlafen und essen, essen und schlafen, schlafen und essen", murmelt er erneut. Anfang Oktober läuft seine humanitäre Aufenthaltserlaubnis ab; Saber fürchtet, dass die Achterbahn ihn dann wieder nach unten trägt, dass er zum Illegalen wird, dass er auch aus der Villa Pieragnoli rausmuss, wenn er keine Arbeit gefunden hat, denn "hier in Italien herrscht tiefste Krise".

Nur eine Gewissheit hat er: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt will er um keinen Preis zurück nach Tunesien.

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4 Kommentare

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  • EB
    empörter Bürger

    Die ganzen Flüchtlinge müssen in ihre Heimatländer ausgeschafft werden! Es kann nicht sein das die Mehrheit der europäischen Bevölkerung von ihren Regierungen dermaßen verarscht werden.

     

    Wir brauchen eine europaweite Volksabstimmung zum Thema Illegale. Die Sozialdemokraten und Grüne können das doch mal in die Wege leiten.

  • H
    holkan

    Warum erfährt man eigentlich nichts darüber, warum die beiden ein Flüchtlingsleben dem Leben in der Heimat vorziehen? Weil sie kein Geld zum Heiraten hatten? Weil sie Schmuck verkaufen mussten? Willkommen in der Realität! Wussten Sie nicht, dass das das Los auch vieler Europäer ist? Die Geschichte der beiden Jungs dient nicht gerade dazu, Flüchtlingen mehr Verständnis entgegen zu bringen. Im Gegenteil, über so viel Naivität (und einer solchen absurden Erwartungshaltung) kann man nur den Kopf schütteln.

  • S
    svenja

    Die Tunesier müssen zurück.

    Ein so einseitige Einwanderungsstrom

    führt zu ethnischen Spannungen

    und bringt das Gleichgewicht der

    Geschlechter im Einwanderungsland in Bedrängnis.

    Und außerdem fehlt mir für Egoisten,

    die nur an ihr eigenes Schicksal denken jegliches

    Verständnis.

  • M
    Mokthar

    Flüchtlinge würden alles tun, damit sie nach Europa kommen können, so wie auch Rida aus Tunesien, der es nach mehreren Versuchen nun geschafft hat: http://2010sdafrika.wordpress.com/2011/07/28/ich-bin-endlich-in-europa-und-bleibe/.