piwik no script img

Flüchtlinge Im April 2015 war ein Schiff mit mehreren Hundert Flüchtlingen vor Libyens Küste gesunken. Jetzt wurde es geborgenDen Toten Namen geben

Gesunken am 18. April 2015: Totenschiff in 370 Meter Tiefe Foto: Marina Militare Italiana/ap

Aus Rom Michael Braun

Den Toten einen Namen geben, den Angehörigen erlauben, ihre Söhne, Töchter oder Geschwister würdig zu bestatten – dies ist das Ziel der aufwendigsten Bergungsoperation eines gesunkenen Flüchtlingsschiffs, die bisher im Mittelmeer durchgeführt wurde.

Am Freitag traf das große Spezialschiff in dem sizilianischen Hafen Augusta ein, das am Heck, aufgehängt in einem Gerüst, den Fischkutter mit sich führte, der am 18. April 2015 gesunken war. Auf dem Kai des Hafens stand schon ein großes, gekühltes Zelt bereit, um den Kutter aufzunehmen, denn in seinem Bauch befinden sich immer noch Hunderte Leichen.

Von 700, womöglich 800 Menschen an Bord war unmittelbar nach der Katastrophe die Rede. Der nur 30 Meter lange Kahn war etwa 70 Seemeilen vor der libyschen Küste in Seenot geraten. Nach dem Empfang eines Notrufs hatte Italiens Küstenwache den portugiesischen Containerfrachter „King Jacob“ zu dem Boot dirigiert. Doch als sich das Schiff näherte, hatten sich die Flüchtlinge an Deck alle auf eine Seite gedrängt und ihren Kutter so zum Kentern gebracht.

Nur 28 Menschen konnten gerettet werden. Keine Chance hatten all jene, die unter Deck eingesperrt waren. Überlebende Zeugen sagten aus, dass bewaffnete Schleuser die Menschen dort eingepfercht und dann die Türen abgeschlossen hätten.

Am Unglücksort ist das Meer 370 Meter tief, Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi aber versprach sofort, dass das Boot gehoben werde. „Ich will, dass die ganze Welt sieht, was geschehen ist“, erklärte er. Schlicht unakzeptabel sei es, „dass manche immer noch sagen: ‚Aus den Augen, aus dem Sinn.‘ “

Mehr als 10 Millionen Euro betrugen die Kosten der von der italienischen Marine durchgeführten Hebung des Schiffs. In deren Verlauf wurden schon169 Leichen vom Meeresgrund geborgen. Unmittelbar nach Eintreffen des Kutters im Hafen Augusta hieß es nun, dass wahrscheinlich etwa 300 weitere Tote an Bord seien; damit würde die Gesamtzahl der Opfer 500 betragen. Auch wenn ihre Zahl damit niedriger läge als bisher vermutet, würde es sich immer noch um eine der größten Flüchtlingstragödien handeln, die sich in den letzten Jahren im Mittelmeer ereignet haben.

Bei der Hebung stellte sich heraus, dass der Kahn namenlos war – namenlos wie bisher auch die Hunderten Toten in seinem Bauch. Jetzt haben Feuerwehrleute den traurigen Auftrag, die Leichen aus dem Schiffsrumpf zu bergen. Anschließend werden sich Dutzende Gerichtsmediziner, die aus ganz Italien angereist sind, daranmachen, unentgeltlich die nach Angaben von an der Bergung beteiligten Personen zumeist skelettierten Körper zu untersuchen. Die wohl einzige Hoffnung, ihnen einen Namen zu geben, dürfte in einem DNA-Abgleich mit Verwandten bestehen.

„Schon als bekannt wurde, dass die Marine 169 Leichen vom Meeresgrund geborgen hatte, haben sich Hunderte Personen bei uns gemeldet, vor allem aus Mali, aus Gambia und aus Nigeria“, erklärte Cristina Cattaneo, Koordinatorin des Ärzteteams. Sie berichtete, dass dem Team schon zahlreiche DNA-Proben, aber auch Röntgenbilder von Gebissen zugegangen seien.

Er sei „stolz darauf, Italiener zu sein“, teilte seinerseits Re­gierungschef Renzi auf Face­book mit. „Wir arbeiten tagtäglich dafür, dass Europa sich auf der Höhe der Werte zeigt, die es groß gemacht haben“, schrieb Renzi. „Ich habe die Bergung des Wracks angeordnet, um diesen unseren Brüdern und Schwestern, die sonst für immer auf dem Meeresgrund geblieben wären, eine Bestattung zu ermöglichen. Ich habe dies getan, weil wir Italiener den Wert des Wortes Zivilisation kennen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen