piwik no script img

Flüchtige Spuren

■ Wilfried Minks inszeniert Teschechows „Der Kirschgarten“ am Schauspielhaus Hamburg

Am Anfang ist das Haus, und es ist weiß verhüllt. Am Ende ist es leer, bis auf den alten Diener Firs, der sich zum Schlafen, zum Sterben legt: „Das Leben ist vorbei, als hättest du es gar nicht gelebt.“

Das Leben hat Spuren im Haus hinterlassen: die Abbilder der Kirschzweige auf den Wänden rechts und links, die zerbrochene Fensterscheibe, durch die der Ast eines gefällten Kirschbaumes ragt. Wenige, geringe Spuren, zu flüchtig, um die Bewohner zu halten, zu schwach, um von ihnen zu zeugen. Dieses Haus im Kirschgarten, dessen weiße Hüllen Stück für Stück Requisiten einer vergangenen Kindheit preisgeben, mit dem breiten Bauernbett im Zentrum, ist der Ort, an dem sie sich wiedertreffen, die verschuldete Gutsbesitzerin Ljubow Ranjewskaja und ihr billardspielender Bruder Leonid, Tochter und Pflegetochter, der reiche Kaufmann Lopachin, der verkrachte Student Trofimow und ihre Gäste und Bediensteten. Sie erwecken den Ort noch einmal zum Leben, und auf dem halbzerfallenen Friedhof unterm Kirschbaum, dessen riesiger Zweig über die Bühne ragt, werden sie sich noch einmal ihrer Sehnsucht vergewissern.

Die Jungen und die Dienenden können aussprechen, daß sie fortwollen, hinaus aus den Gärten der Kindheit in ein anderes Leben. Die Ranjewskaja und ihr Bruder beschwören den Kirschgarten als Fluchtpunkt ihrer Jugend; es ist schwer, sich davon zu lösen. Den Garten zu erhalten und damit ihre gewohnte Existenz, dazu reicht die Kraft nicht aus. Statt dessen spielen sie Komödie, mit Ilse Ritter und Hermann Lause fast allzu perfekt besetzt; schmal, mit rötlichem Haar, zart und flirrend, tändeln sie graziös über alle Probleme hinweg, unberührbar in ihrer Ignoranz und reich gesegnet mit dem Charme der Herzlosen. Erst dann müsse man sich ans Schreiben machen, so Tschechow, „wenn man sich kalt wie Eis fühlt“, und diese Haltung hat Regisseur Wilfried Minks zum Schlüssel seines Kirschgartens erkoren. Sein Geschwisterpaar, und die Ranjewskaja vor allem, wird zum kühlen Wellenbrecher aller Ausbrüche und saugt alle Emotionen mit Leichtigkeit ab.

Doch der lange Abschied von der verlorenen Zeit ist mit Fußangeln bestückt, und in dem Maße, wie das Haus zum Leben erwacht, bricht das Eis zwischen den Menschen. Beim großen Maskenball läßt Ilse Ritter hinter der munter-leichtsinnigen Lebedame aus Paris das kleine Mädchen aufscheinen, das sein Zuhause längst verloren hat. Dieter Mann als Kaufmann Lopaschin konfrontiert sie mit einem ernsthaft verstrickten Mann: Er will dieses Haus, diesen Garten für sie retten, obwohl er weiß, daß nur die Nutzbarmachung und Parzellierung für Sommergäste, also die Zerstörung einträglich genug wäre. Als er ihr eröffnet, daß er den Garten selbst gekauft hat, wird das Spiel für einen kurzen Augenblick ernst: Die Aufgabe der Rollen und Masken könnte erreicht sein, das Ende aber auch der Macht der Gutsherrn über den Sohn ihrer Leibeigenen. Mann und Frau, er zum ersten Mal im weißen Anzug und sie mit roter Pappnase, lassen eine Ahnung aufkommen vom eisernen Korsett ihrer Rollen, in das alle gespannt sind und das eben nicht immer mit Grazie und Weltgewandtheit getragen wurde.

Doch Wilfried Minks setzt die Gesetze der Komödie nicht außer Kraft, und der Auszug aus dem Haus, mit Koffern und Hutschachteln und ohne daß die rundliche, resolute Pflegetochter Warja mit Lopachin zu verloben gewesen wäre, gerät wieder leicht und heiter. Als Bühnenbildner ließ Minks dem Haus die meisten seiner Geheimnisse, mehr als der Regisseur Minks den Menschen zugestand. Der Vorhang vor dem hinteren Teil der Bühne stets halb verschlossen, und das wunderschöne Kinderkarussell erscheint immer nur sehr kurz, gerade lang genug, um sinnlose Sehnsucht nach den magischen Momenten der Kindheit zu provozieren.

Peter Brooks Kennzeichnung des Dichters Tschechow als einem „Arzt, der mit unendlicher Zartheit und Sorgfalt Tausende und Abertausende Schichten vom Leben entfernt hat“, verweigert sich diese Inszenierung des Kirschgartens. Möglicherweise tut sie das mit Blick auf Tschechow selbst, der es den „Dummköpfen und Scharlatanen“ überlassen wollte, alles zu wissen und alles zu begreifen. Wenn man aber Tschechows Menschen der Oberflächlichkeit allzuoft ausliefert, rücken Haus und Garten an die Stelle derer, die durch sie hindurchgingen. Das Interesse an den Menschen weicht dem Wunsch, noch einmal das Karussell mit dem tanzenden Bären oder die auf den Wänden dahingleitenden Kirschzweige zu sehen. Ein kritischer Blick ist das nicht mehr, sondern — schlimmstenfalls — der von satten, gelangweilten Voyeuren. Oder traurigen Kindern. Lore Kleinert

Anton Tschechow: Der Kirschgarten. Regie und Bühne: Wilfried Minks. Mit Ortrud Beginnen, Ilse Ritter, Hermann Lause, Matthias Fuchs, Dieter Mann. Schauspielhaus Hamburg. Nächste Aufführungen: 10., 15., 21. und 27. November.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen