Fluchtdebatte auf dem Katholikentag: Frag den Flüchtling
Enkel von Vertriebenen treffen Geflüchtete von heute. Sie sollen wissen, was sie erlitten und erlebt haben. Doch es gibt da ein Problem.
Es sind Christinnen und Christen, die der 100. Deutsche Katholikentag nach Leipzig in die ostdeutsche Diaspora gespült hat. Und sie wollen es ganz genau und sehr ernsthaft von ihrem afrikanischen Gesprächspartner wissen: Wie war seine Flucht nach Deutschland? Warum ist er gekommen? Was hat er in der Elfenbeinküste erlebt, was hier? „Menschen sehen, Geschichten hören, Verständnis schaffen. Flüchtlinge erzählen ihre Geschichte“, heißt dieser Programmpunkt des Katholikentags, der neben den Evangelischen Kirchentagen das größte regelmäßig stattfindende Diskussionsforum der Zivilgesellschaft ist.
Tindano, der nun seit rund zwei Jahren in Halle an der Saale lebt, will auch zu dieser Diskussion beitragen. Aber wenn die elf lieben katholischen Gläubigen an diesem 50er-Jahre-Tisch in der Leipziger Oper eben nur rund 15 Minuten Zeit haben, den jungen Westafrikaner auszufragen: Wie soll da ein wirkliches Gespräch zustande kommen, wie soll er all das schildern, was er erlebt und erlitten hat? Die Angst, die Hoffnung, die Gefahr?
Tindanos Worte bleiben dürr, als versage er sich selbst zu viele Gefühle. Mehrmals muss er erzählen, dass er vor dem Krieg in der Elfenbeinküste geflohen und dass es über Mali, Algerien, Marokko und Spanien gegangen sei. Etwa ein Jahr dauerte das, und es war „schwierig: viel Polizei“. Nur einmal deutet Tindano Gefühl kurz an: „Ich habe meinen Vater nie kennengelernt“, sagt er trocken, „meine Mutter ist gestorben, ich bin jetzt ganz allein.“ Geschwister hat er keine.
Alles furchtbar gut gemeint
Als wolle er die Stimmung heben, betont er mehrmals: „Halle gefällt mir sehr gut.“ „Deutschland gefällt mir sehr gut.“ Ja, er sei Christ, und ja, er gehe in die Kirche – „jeden Sonntag“. Je länger das Gespräch dauert, umso mehr spielt er nervös mit seiner Plastikflasche herum. In seiner Not wehrt sich Tindano schließlich leise und höflich dagegen, in Speed-Dating-Manier noch zu einem dritten Tisch mit fragenden Katholiken gehen zu müssen – dabei war alles so gut gemeint.
Das ist oft das Problem bei Katholikentagen und Evangelischen Kirchentagen, die sich jährlich in immer anderen Städten Deutschlands abwechseln: Es ist alles so furchtbar gut gemeint, fast alles sehr ernst und sehr deutsch – aber leicht winkt in der Fülle der meist 1.000 oder mehr Veranstaltungen auch die Beliebigkeit. Die Gläubigen wollen in Leipzig ordentlich beten, viel singen, etwas feiern, alles besprechen und sich gegenseitig für ihren Alltag in den Gemeinden bestärken. Aber was bewegt die 30.000 Katholikinnen und Katholiken, die nach Leipzig gekommen sind?
In diesem Jahr ist es die Flüchtlingsfrage – und deshalb will auch Tindano von seinem Schicksal erzählen. Solidarität mit den Geflüchteten, das Bemühen um ihre Integration, die Empörung über die Hetzerei von AfD und Pegida gegen sie – das ist der Dreiklang, der in praktisch allen großen Veranstaltungen des Katholikentags überdeutlich zu hören ist: gleich auf der ersten Pressekonferenz des Katholikentags, auf der Eröffnungsfeier auf dem Markt von Leipzig, bei der der Papst – eine Premiere! – in Argentino-Deutsch eine Videobotschaft an die Gläubigen säuselt, oder bei den Auftritten des Bundespräsidenten beim Festakt aus Anlass des 100. Katholikentags. Das Thema Flucht und Flüchtlinge findet in Dutzenden Veranstaltungen statt.
Die Säulen der Willkommenskultur
Die katholischen und evangelischen Christen, ihre vielen, vielen Gemeinden und ihre riesigen Sozialorganisationen der Caritas und Diakonie sind eine tragende Säule dessen, was man im vergangenen Jahr noch ganz unironisch „Willkommenskultur“ genannt hat. Der Katholikentag kommt genau zur rechten Zeit, um zu diskutieren, was in den letzten zwölf Monaten an Einwanderung nach Deutschland passiert, was geglückt, was missraten ist.
Die „Junge Aktion“ der christlichen „Ackermann Gemeinde“ hat da den vielleicht kühnsten Gedanken gewagt: Denn die „Ackermann Gemeinde“ ist ein gleich nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeter Verband von Vertriebenen aus der Tschechoslowakei. Der Jugendverband hat Tindano und andere Flüchtlinge eingeladen, über ihr Schicksal zu sprechen. Die Enkel oder Urenkel der Vertriebenen von 1945 engagieren sich für die Flüchtlinge von 2016.
Natascha Hergert, geboren 1991 in Hünfeld bei Fulda, hat diese Idee mit entwickelt. Ihr Engagement für Flüchtlinge, sagt sie, sei auch familiär bedingt. Denn fast alle ihre Urgroßeltern waren, grob gesagt, Vertriebene – aber solche, die aus diesem Schicksal der Flucht nicht revanchistische Gelüste entwickelten, sondern den christlichen Wunsch nach Verzeihung und Versöhnung. Natascha Hergert erzählt von ihrer Urgroßmutter, die sich mit der tschechischen Familie anfreundete, die nach 1945 ihr früheres Haus bewohnte. Diese grenzenlose Offenheit ist auch ein Grund, weshalb ihre Urenkelin Natascha Hergert mit der tschechischen Familie befreundet ist, unbedingt Tschechisch lernen wollte und nun in Prag lebt. Bald wird die ausgebildete Hebamme einen Tschechen heiraten.
Europas Botanische Gärten werden nach und nach geschlossen. Ob sie noch zu retten sind, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 28./29. Mai. Außerdem: Elf kongolesische Blauhelmsoldaten stehen vor einem Militärgericht – wegen mutmaßlichen sexuellen Missbrauchs im Rahmen der UN-Friedensmission in der Zentralafrikanischen Republik. Kann nun Recht gesprochen werden? Und: Am 5. Juni stimmen die Schweizer über das bedingungslose Grundeinkommen ab. Wie lebt es sich damit? Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Abschätzige Sprüche gegenüber Fremden kann Hergert nicht akzeptieren; seien es Schimpfereien von Vertriebenen über Tschechen oder Vorurteile von jungen Tschechen über Flüchtlinge, die in unserem Nachbarland weit weniger willkommen sind als hierzulande. Das Flüchtlingsthema sei auf diesem Katholikentag so wichtig, sagt Hergert, weil „die Kirche und kirchlichen Organisationen da etwas zu erzählen und einzubringen haben“. Der Bibel zufolge war auch Jesus ein Flüchtling.
Tindano schlendert nach seinem Erzählmarathon in der Oper durch die Fußgängerzone von Leipzig – überall sind Stände katholischer Organisationen. Bei dem des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, dem Ausrichter des Christentreffens, wird ihm ein Lebkuchenherz geschenkt, ebenso wie seiner Begleiterin Pauline Komarek. In Halle ist die 22-Jährige engagiert für Flüchtlinge. Komarek hat noch nie einen Gottesdienst erlebt und überlegt sich an diesem sonnigen Nachmittag laut, ob sie als Ungläubige wohl der Blitz vom Himmel träfe, wenn sie mal einen besuchte. Sie schenkt ihr Lebkuchenherz Tindano, er schenkt ihr seines.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Doku über deutsche Entertainer-Ikone
Das deutsche Trauma weggelacht
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Syrische Geflüchtete in Deutschland
Asylrecht und Ordnungsrufe
Sednaya Gefängnis in Syrien
Sednaya, Syriens schlimmste Folterstätte
Schwarz-Grün als Option nach der Wahl
Söder, sei still!