Flucht: Der einzige Ausweg

■ Keine Perspektiven im Wohnklo/ Zu den Vorfällen der jüngsten Vergangenheit in der JVA Celle I

Immer noch gibt es Medien, die vorzugsweise in unrealistischer Art und Weise, aufbauschend, ein falsches Bild vermitteln. Das gilt auch und ganz besonders für den Strafvollzug. Sicher, die meisten Inhaftierten „sitzen“ nach geltendem Recht zu Recht. Doch schon hier ist einiges im argen: In Deutschland wird immer noch zu viel eingesperrt, und es werden Strafen zu lang ausgesprochen! Für alle Inhaftierten könnte der Vollzug liberaler und humaner gestaltet werden. Viele Länder, zum Beispiel das Nachbarland Holland, machen es uns in allen Punkten besser vor — und es werden damit bessere Ergebnisse erzielt. Behandlung statt Verwahrung ist die dringend notwendige Devise. Die Zeit der Unfreiheit muß effektiv als Behandlungszeit genutzt werden, und die Unfreiheit sollte die Zeit der Spezialprävention nicht überschreiten. Die Generalprävention mit ihrer abschreckenden Wirkung auf den freien Bürger ist eh umstritten und kann voll wegfallen. Damit könnten Strafen in halber Länge ausgesprochen werden, denn jede Haftstrafe setzt sich zur Hälfte aus Generalprävention (Wirkung nach außen) und Spezialprävention (Wirkung auf den Täter) zusammen. Es muß also reichen, wenn der Täter seinen Teil „absitzt“ und nicht noch einen gleich langen Teil für mutmaßlich gefährdete Bürger draußen „brummt“.

Psychologen, Kriminologen pp. kennen auch noch andere Wirkungen, nämlich die, daß bis zu sieben Jahre Haft eine positive Wirkung auf den Täter haben, eine längere Strafe jedoch die Wirkung ins Gegenteil verkehrt. Ferner ist bekannt, daß nach zwölfjähriger Haftzeit irreversible Schäden an Geist und Körper des Inhaftierten auftreten! Warum, so frage ich, wird dieses Wissen nicht adäquat umgesetzt? Warum gibt es im sozialen, liberalen, humanen(?) Deutschland immer noch „LL“ und „SV“? Beides, letzteres ein altes übernommens Nazi-Relikt, gehört als erstes abgeschafft! Wir Deutschen wollen fortschrittlich und modern sein, doch Strafrecht und vor allem Strafvollzugsrecht hinken weit, sehr weit hinterher.

Diese und andere Fakten, zusammen mit restriktiven Maßnahmen im Vollzug, schüren quasi Vorfälle, wie sie in Celle in der dortigen JVA stattfanden. Besehen wir mal wahllos einen der mit Geisel Geflüchteten: Alter 37 Jahre, noch ca. 30 Jahre Haftzeit, gesunder, vitaler Mann, intelligent, total isoliert gefangengehalten. Diesem Mann ist mit Sicherheit klargeworden, daß er sein Leben gelebt hat, wenn es ihm nicht gelingt, vorzeitig durch eigene Kraft die Freiheit zu erlangen. „Hopp und Top“ wird seine Devise gewesen sein. Es wird seine Devise und damit auch ein permanenter Gefahrenpunkt bleiben, wenn ihm keine Perspektive und kein menschenwürdiges Leben im Knast geboten werden. Das gilt in irgendeiner Form natürlich auch für alle anderen Langstrafler. Erhebliche Schuld trifft also vor allem auch diejenigen, die dieses System schufen, formten und verbissen beibehalten, obwohl heutiger Wissensstand anderes gebietet.

Willkür und kollektive Negativmaßnahmen sind für alle Einsitzenden der JVA Celle I die Folge des Ausbruchs der vier mit Geiseln geflüchteten Gefangenen. So werden Briefe Wort für Wort gelesen, Telefonate vom Stationsbeamten und der Vermittlung mitgehört, es wurden Einschlußzeiten verlängert, Kontrollen (auch der Besucher) verstärkt, der Besitz von Musikkassetten reduziert, die Zellendurchsuchungen vermehrt und so weiter. All diese Maßnahmen treffen nicht die Schuldigen, sondern alle die, die am Vollzugsziel mitarbeiten und die Geschehnisse (Geiselnahme) verurteilen.

Liebe Leser, würden Sie einschränkende Maßnahmen in Ihrem persönlichen Bereich hinnehmen wollen, wenn ein Nachbar sich unkorrekt verhält? Sicherlich nicht. Auch unsere inhaftierten Mitbürger fühlen sich in ihrem Rechtsempfinden gestört. Meines Erachtens ist ein solch dekadentes Verhalten der Justiz ungeeignet, Straffällige hinzuführen zu Glaube an Recht und Gesetz; vielmehr sind solche frappanten Maßnahmen der Motor für allgemeine Unruhe, Gereiztheit etc. in beengter Zwangsgemeinschaft. Celle I leidet zudem noch an totaler Übersicherung, was zwangsläufig immer wieder Vorfälle nach sich zieht. „Lege den bravsten Hund ständig an die Kette und quäle ihn — er wird bissig und falsch!“

Vergessen wir bitte eines nicht, kriminelle Energie haben wir alle! Es gibt vielfach mehr Nichterwischte als Erwischte. Auch Gefangene sollten die Chance zum Neuanfang haben, das heißt auch, daß wir vom suggerierten Feindbild des Gefangenen abrücken müssen. Gefangene sind Menschen, die Fehler gemacht haben, teils schwere und schwerste, aber sie sind und bleiben Menschen, die, wie die Erfahrung lehrt, durchaus wieder zu guten wertvollen Mitbürgern werden können.

Schon eine kleine Verspätung in der Ankunftszeit bei einem beurlaubten Gefangenen erscheint in der Statistik als „Urlaubsversager“. Das ist schlicht Schlechtmacherei. Von den Tausenden in Deutschland gewährten Lockerungen und Urlaubsgesuchen sind nur zirka 0,3 Prozent mißbraucht worden. Grobe Verstöße sind gar unter 0,05 Prozent zu verzeichnen. Ich denke, das spricht für sich, und die Bevölkerung sollte dem positiv gegenüberstehen. Ich glaube, die Lehrer einer Schule wären heilfroh, wenn auf einem Schulausflug nur einer von 200 Schülern Blödsinn macht. Warum ist über solche Dinge nichts oder nur sehr selten etwas zu lesen, warum werden nur die seltenen negativen Ausnahmen reißerisch vermarktet, warum halten sich Politiker nicht an bekannte Zahlen und lassen sich vom Stimmungsbild in der Bevölkerung leiten (utilitäres Verhalten auf Kosten einer Randgruppe ohne Lobby)?

Warum gestaltet der Gesetzgeber den Vollzug nicht humaner? Die Mauer gibt Sicherheit nach außen, ebenso Fenstergitter, dicke Türen, Überwachungskameras und so weiter. Warum gibt es noch „Knast im Knast“? In Celle I gleich mit vierfacher Steierungsmöglichkeit: Normalvollzug, Sicherheitstrakt, Hochsicherheitstrakt und Bunkerhaft, auch „Kopfbau“ genant.

Im Normalvollzug sind die Einzelzellen etwa sieben bis neun Quadratmeter groß, so groß wie mein Gäste-WC, viele Gefangene nennen ihre Zelle „Wohnklo“. In diesem Wohnklo steht neben den privaten Utensilien ein Blechspind, ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Regal, und es befinden sich auf der kleinen Fläche noch ein Waschbecken und die Toilette. Die Enge muß wohl nicht näher beschrieben werden. Hier verrichtet der Inhaftierte seine Notdurft, ißt sein ihm vorgesetztes Essen, schläft und lebt dort. Geruchsüberquerungen, riechende Kleidung und letztlich Auswirkungen aufs Gemüt sind die Folge. In dieser Umgebung, unter ständiger Bevormundung, ohne Privat- und Intimsphäre unter nur Gleichgeschlechtlichen in einer Zwangsgemeinschaft lebt ein Gefangener jahrelang. Hier wird jegliche Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung unmöglich gemacht, die Selbständigkeit und Selbstachtung vernichtet. Dem Gefangenen fehlt die Nähe von Menschen, die er mag, die ihm Liebe, Zärtlichkeit und Geborgenheit geben und denen er gleiches geben kann. Das Ziel des StVollzG ist es unter anderem, den Gestrauchelten zu einem normalen Leben zu befähigen. Gerade das aber verhindert der Vollzug; das normale Leben wird im Knast vollkommen ausgeschaltet, wie das Licht abends in der Zelle. Der Inhaftierte ist in unseren Gefängnissen nicht mehr ein selbständiges Subjekt, sondern nur noch ein verwaltetes Objekt. 50.000 Menschen waren in der alten BRD eingesperrt wie die Hühner, mit Kosten von zwei Milliarden DM im Jahr. Ein unmöglicher Zustand! Nirgends ist die Selbstmordrate so hoch wie in unseren Gefängnissen. Wenn die zwei Milliarden DM für gefährdete Personen dafür verwandt würden, sie von den Zwängen zu befreien, die zu einer Straftat führen, dann wären künftig Gefängnisse nicht nur fast überflüssig, sondern wir würden Verbrechen verhindern (es gäbe keine Opfer) und die Welt tatsächlich etwas sicherer machen. Gefängnis kann niemals Erziehungserfolge verbuchen. Der Weg muß uns vom Verwahren zur Behandlung führen. Während der Behandlung sollte der Delinquent nicht wie jetzt Pfennigbeträge für seine Arbeit erhalten, sondern Tariflohn und endlich in die Rentenversicherung einbezogen werden. Nur so ist eine Schadenswiedergutmachung möglich und ein Abgleiten zum Almosenempfänger im Alter zu verhindern — nur so kann einem Rückfall wirkungsvoll vorgebeugt werden. Helga Hochbauer-Rogge, ehrenamtliche Einzelfallhelferin in der JVA Celle