: Fliegende Pariser
■ Architekturutopien für Paris in der Berliner Kunsthalle
Man kann die ganze Sache natürlich auch so auffassen: Kaum hatte der Presserundgang durch die Ausstellung Paris - Architektur und Utopie, die in der Berliner Kunsthalle eröffnet wurde, begonnen, da drehte ein wegen seiner schlechten Manieren schon berüchtigter Fotograf, zu dessen Markenzeichen ein umgeschnallter Patronengurt gehört, voll durch. Aus Wut über die „Verbrecherarchitektur“, die er obendrein noch knipsen mußte, fiel er einen Rundfunkreporter an. Erst brüllte der Fotograf: „Weg da!“, und als nichts passierte, holte er, dunkelrot, aus und rammte dem Rundfunkmann mit den Worten: „Du hast es so gewollt“, die Stativspitze in die Seite. Berlins oberster Polier, Wolfgang Nagel, der kurz zuvor und angesichts der ausgestellten Pläne von „fruchtbaren Utopien“ für Gesamt-Berlin sprach, was den Fotografen sichtlich aufstachelte, muß in Zukunft vorsichtiger sein ob derart gesundvolksempfindlicher Brutalität. Die dachte nämlich, Nagel wolle das vielleicht bauen.
Die Ausstellung ist - sie wurde von Kristin Feireiss konzipiert und war bereits im Pariser Pavillon de L'Arsenal zu sehen - eine gezeichnete Liebeserklärung von rund 40 Architekten an die Stadt Paris und an die Architektur selbst, sind doch die präsentierten Exponate allesamt Bildergeschichten, die vom Bauen handeln, als wären die visionären Architekturen erdichtete Landschaften des Scheins. Die Architektur für den Aufbruch ins 21. Jahrhunderts spielt dabei mit Chiffren der Metropole, mit Geschwindigkeit und Rasanz. Als würde ein Zukunftsroman aufgeblättert, wo mit alten Mythen neue Fiktionen beschworen werden, erzählen Konstruktionen aus Stahl, Beton und Glas, meterhoch und riesig, dazu spekulative Geschichten. Doch gehen die Märchenwelten auf den größtmöglichen Abstand zur Zweckmäßigkeit und stellen sich, im Unterschied zu megalomaner Monumentalität, gegen das Bauen der Repräsentanz und Funktionserfüllung. Paris kann von diesen innovativen Experimenten nicht erschlagen werden - eher stirbt es an den augenblicklichen Realitäten. Sie sind Träume, phantasievolle Denkgebäude, surrealistische Ergüsse natürlich.
Es geht auf die Reise: Vorbei an den Symbolismen aus der alten Welt und technischen Formen aus dem Paris des 19. Jahrhunderts über verplante, verunstaltete Uferlandschaften entlang der Seine bis zu den Türmen der Peripherie La Defence rast man utopischen Fiktionen entgegen, oft unterstützt durch Sprache und Gemälde, deren ästhetischer Charakter die Architektur dabei zu einem Gleichnis, zum Gedicht oder zum Drama macht. Paris erscheint am Meer und auf steilen Bergen, ist Zauberwald und aus Glas gemacht. Einmal ist der Eiffelturm auf die Erde gekippt und dient als Museum, dann steht er auf dem Kopf. Monumente werden gebaut zum Zweck, sie wieder abzureißen. Die Cite ist Wohnstadt geworden, Notre Dame unter Eis versunken. Galerien aus Glas ziehen sich entlang der Insel. Wolkenhügel lugen über die Häuserreihen, hängende Gärten und schaukelnde Türme ziehen vorbei. Über dünne Leinen steigen Luftschiffe in den Himmel auf, an denen bunte Wimpel hängen. Eine Biene hat aus Waben einen Wohnstock gebaut. Selbst altbekannte Hochhauskolonnen am Stadtrand, Ozeandampfer und Raketenbauten aus den 20er Jahren muten noch wie Dichtung an. Revolutionäre Zusammenhänge zwischen Menschen und Gebäuden entstehen. Die bauliche Oberfläche wird zum Manifest neuen Lebens. Aus der Terra incognita wachsen gedankliche Häuser, wobei der fiktive Zusammenhang einen erzählerischen Ablauf schafft, dem sich ergeben kann, wer will. Alles ist jenseits von Wirklichkeit und möglichen Tatsachen. Hin und wieder patzt einer mit reali stischer Akribie, ist genau und zeichnet ...
Die Kunsthalle - ansonsten nicht gerade gesegnet mit gelungenen Konzepten - ist zu einem Architekturbüro umgebaut. Für jedes Projekt ist ein Tisch bereitgestellt. An der Wand hängen Ansichten, Grundrisse, Schnitte und poetische Erklärungen, daneben steht das Modell. Auf den Reißbrettern liegen Pläne und Zeichnungen. Man kann sich auf einen Drehstuhl hocken, eine Lampe anknipsen und in die Hypothesen einer scheinbaren Welt eintauchen. Das Paris zum Selberbauen aus Betonklötzchen liegt gleich daneben. Faites votre jeu! Erst ist es ein Labyrinth ohne Ziel und Zweck, mit Irrtum und immer neuen Versuchen, dann eine Ecke, ein Hochhaus, ein altes Raster. Wer etwas riskiert, erfindet neue Großstadtformen. Die Reise führt zu den „unsichtbaren Städten“ des Dichters Italo Calvino, zu seinen Gedanken über die Zeichen der Stadt und über den Eros hinter dem Beton.
Im Unterschied zur Vorläuferausstellung Berlin - Denkmal oder Denkmodell, als die Architekten, politisch recht tendenziös, den Mauerübertritt bis zum schieren Erbrechen wagten, sind die Ideen zur französischen Metropole auf viele Punkte der Stadt und ihre historische Substanz verteilt Hausmanns Achsen, Eiffelturm und Le Corbusiers Architektur, die Kathedrale, die Seine, industrielle Flächen und Chiffren. Die Stadt bietet ihre Räume, ihren Rhythmus, ihre Ruhe an, als sei sie eine Skulptur für das Lebendige wie das Versteinerte. Sie ist eine Stadt, in der Utopie und Energie immer noch Platz zu haben scheinen, um immaterielle Realitäten zu entwickeln. Zum Spiel, zur Analyse, kritisch, kindlich.
Zum poetisch-malerischen Spielplatz wird die Ausstellung um so mehr, wenn man zu Lebbeus Woods Schwebendem Paris kommt, das in ihrem Zentrum hängt. Der New Yorker hat in das Treppenhaus der Kunsthalle ein Eisenmodell seines „Wohnlabors“ gebaut, das an einen ausrangierten Sky-Scooter aus frühen Kirmestagen erinnert. Obwohl rostig durchlöchert und kantig, scheint es jederzeit wieder abheben zu können. An der Wand hängen seine handgemalten bunten Bleistiftbilder, die Geschichten zu dem Modell erzählen: Hoch in den Wolken, über dem Eiffelturm, schweben in luftigen Wohnlabors schwerelose Schiffschaukelmenschen am Himmel, die zwischen den aufgeblähten Segeln einen Luftzirkus betreiben. An dünnen Fäden ist das Flugobjekt noch mit der Erde verbunden, doch nicht aus Sicherheitsgründen, wie man vermutet, sondern deshalb, weil das Netz die Gammastrahlen aus dem Weltraum absorbiert. Manchmal müssen die Zirkusleute wie Fischer die Netze flicken. Dazu fliegen sie, an feinen Halteseilen gesichert, über den Himmel von Paris. Tief unten sieht man die Stadt in Auflösung begriffen. Die Auswirkungen des Ozonlochs haben die Erde beinahe verschwinden lassen. Am höchsten Punkt der Utopie wird die Fiktion schon wieder real.
rola
Die Ausstellung Architektur und Utopie ist bis zum 5.9. in der Kunsthalle, Budapester Straße 42-46, Berlin 30 zu sehen. Di. bis So. von 10 bis 18 Uhr, Mi. bis 22 Uhr; der Katalog kostet 38 Gesamtmark.
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