berliner szenen: Flickflack und zack!
Der Wind
Das sind windige Tage. Der Wind fährt in die Haare, stülpt Kleider um, fegt die Kastanienallee herauf und treibt leichtes Zeugs vor sich her. Laut schlägt vor der eingerüsteten Fassade die großflächige Plane. Wer hier wohnt, braucht an Schlaf nicht einmal zu denken. Paare schreien wie Möwen, während der Wind an Nerven und an Mänteln zerrt. Immer drängt er mit der fegenden Willkür eines plötzlichen Gedankens, der von nirgendwoher heransaust und dann da ist. Arglosen Radlern lauert er hinter Straßenbiegungen auf und stellt sie schräg. Er ist da, wenn „es zieht“, wie das unbestimmt Lebendige, das eine Richtung hat. Im Wind kommen neue, schnelle Gedanken, die später, hinter geschlossenen Türen unendlich altern. Will man sie wiederholen, geht das nicht. In den Straßencafés wirbelt die Asche zwischen den ausgedrückten Stummeln empor und laminierte Speisekarten flickflacken über das Trottoir. Die entlaubten Bäume im Park und an den Straßen lassen alles mit sich machen. Doch Herr Adorno weiß: Der Wind ist ein Lehrer. Er bietet die Gelegenheit, etwas über die eigene, innerste Verfassung zu lernen. Den Unglücklichen beunruhigt sein eigensinniges, richtungsloses Wehen. Ihn jagt er „aus leichtem Schlaf und heftigem Traum.“ Dann geht der Wind durch den Unglücklichen hindurch und Drinnen wird Draußen. Dem glücklichen dagegen „singt er das Lied seines Geborgenseins: sein wütendes Pfeifen meldet, dass er keine Macht mehr hat über ihn.“ MONIKA RINCK
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