Fleischeslust

DAS SCHLAGLOCH
von VIOLA ROGGENKAMP

Frauen sind ohne Seele, jedenfalls im Hinduismus. So gesehen hätte man unser Fleisch essen können

„Da die Rinderzunge bald einen Beigeschmack erhält, so muss sie ganz frisch verwendet werden. Der Knochen und das Gelbe wird davon abgeschnitten, die Zunge mit Salz abgerieben, so lange gewaschen, bis alles Schleimige entfernt ist, tüchtig geklopft, abgespült, inWasser mit wenig Salz ausgeschäumt und recht weich gekocht, worauf man 2 1/2–3 Stunden rechnen kann.“ ( So Henriette Davidis Kochbuch, das 1891 von Elsa Bier neu bearbeitet wurde)

Amanda und ich lebten für sieben Monate in Indien. Am Abend vor unserem Abflug von Bangkok nach Bombay gingen wir in ein teures Restaurant und bestellten Mückenaugensuppe, sodann Entenfüße und kleine Reisvögel knusprig gebraten an Bambussprossen. Als vierten Gang bot uns der Ober Rinderhoden gegrillt an. Aber wir konnten nicht mehr. Ein Jammer, denn wir mussten von nun an für mehr als ein halbes Jahr auf Fleisch verzichten. Es sei besser so, sagte Amanda, die Inder wüssten, warum sie Vegetarier seien. Nicht alle, aber doch die überwiegende Mehrheit.

In Bombay verbrachten wir die erste Woche bei unserer Freundin Saryu. Wir saßen zum Tee auf dem Balkon ihrer Wohnung und beobachteten, wie drüben auf einem Nachbarbalkon ein Stadtbussard landete und das schlackernde Gedärm von irgendetwas oder irgendjemandem mit seinem Schnabel zerriss.

Saryus Diener, ein paar Schritte seitlich hinter ihrem linken Ohr in gebückter Haltung stehend, flüsterte ihr zu, dass unser Essen bereitet sei. Köstlich duftende Currys, fleischlos selbstverständlich. Wir wuschen uns die Hände, Amanda und ich würden noch nach totem Fleisch stinken, sagte Saryu mit sanfter Stimme. Verwesungssubstanzen in unserem Schweiß. Doch nach ein paar Wochen vegetarischer Kost hätten wir das Aas in uns restlos abgesondert.

Beim Essen sprachen wir über indische Religionen und das Fleischverbot. Das war nahe liegend. Die Seelen Verstorbener, die wegen unreinen Lebenswandels noch nicht im Nirwana schwammen, wanderten durch Körper und konnten bis zur Mücke herabsinken. Doch nie würde man abstürzen bis in den Körper einer Frau. Das ergab mein bohrendes Fragen. Frauen sind ohne Seele, jedenfalls im Hinduismus und Jainismus. So gesehen hätte man unser Fleisch essen können. Wir drei Frauen sahen uns einigermaßen betreten an.

Saryu war Historikerin, hatte in Oxford und München studiert und bei dieser Gelegenheit festgestellt, dass im Christentum kanibalistische Wurzeln zu erkennen seien. Beim Abendmahl die Oblate und wie sie zu rohem Fleisch werden auf der Zunge. Nur im Mund des wahrhaft Gläubigen, warf Amanda ein. Saryu hatte ihre schönen Finger bereits in Reis und Linsenbrei versenkt, knetete ein wenig darin herum, schloss genießend die Augen und führte graziös das Essen zwischen ihre Lippen.

Wir fuhren aufs Land, mit der Bahn und weiter mit dem Bus, zwei Tage und eine Nacht. Amanda und ich wohnten bei einer Inderin mit ihren Töchtern, Schwägerinnen und der Schwiegermutter. Die Männer waren weg, das ganze Jahr über auf arabischen Ölfeldern. Ein zufriedenes Matriarchat. Sogar das Hausschwein war weiblich.

Wir nannten sie Miss Piggy. Sie war schwarz gefleckt und recht niedlich. Miss Piggy war unsere Müllschluckerin. Küchenabfälle warfen wir zum Fenster hinaus, und entweder schnappten die Krähen sie weg oder Fräulein Sau. Dabei wuchs und gedieh sie. Es gab einige Schweine in der Gegend. Sie liefen durch roten Sand unter Palmen und fraßen alles, was Menschen fallen ließen. Manchmal standen sie geduldig grunzend hinter kleinen Palmenhüttchen. Die waren dann besetzt.

Im Ort, einige Kilometer von uns entfernt, gab es eine kleine Muslimgemeinde. Auf dem Markt machten wir die Bekanntschaft mit dem Schächter, einem netten Mann, der uns einlud, sein kleines Schlachthaus zu besichtigen. Es war wieder einmal der Strom ausgefallen. Ein Ziegenbock, frisch angestochen, sah aus glasigen Augen wie ein selig Besoffener zwischen seine eingeknickten Beine. Blutgeruch hing bleiern über uns. Auf einem Holztisch lag die Ware, um uns herum schwirrten Fliegen. Man konnte zusehen, wie in das rohe Fleisch gelegte Stäbcheneier in der Schwüle zu leben begannen. Frauen kamen und kauften Fleischbrocken nach Kilopreis. Das sorgsame Zerlegen in Filets, Rippenstücke, Keulen und Hinterbacken war hier völlig unbekannt. Es werde alles stundenlang gekocht, versicherten uns die Frauen, das würde keine Bakterie überleben. Mit viel Chili, Knoblauch und Zwiebeln. Köstlich! Amanda sah mich warnend an und schlug die Einladung zum Abendessen mit Bedauern aus. Wir hätten uns gelobt, heute für unsere in Deutschland gebliebenen Männer zu fasten. Oh ja, das verstanden alle. Nur Deutschland verstand niemand. Was das denn sei?

Monate später wurde Miss Piggy abgeholt. Unsere Wirtin warf ein Fischernetz über sie, und die feigen Köter der Gegend verbissen sich in ihre Schwarte. Sie schrie wie am Spieß. Ein schlanker, zierlicher Mann in geblümtem Oberhemd und hellblauer Hose mit Schlag band Miss Piggys Beine zusammen und schnallte sie auf den Gepäckträger seines Fahrrades. Sie bäumte sich wie eine hochgespannte Sprungfeder. Während er mit ihr schwankend unter Palmen davonradelte, zerschnitt ihr schrilles Schreien die Luft hinter ihm. Plötzlich Stille. Miss Piggy zappelt nicht mehr. Herzschlag.

Wir würden nachtotem Fleisch stinken. Verwesungs-substanzen in unserem Schweiß

Wer würde sie essen können? Unsere Wirtin klärte uns auf. Muslimische Männer. Aber nein? Aber doch! Es gebe ein Restaurant, wo in abgetrennten Kabinen, hinter Vorhängen . . .

Vier Wochen vor unserer Heimreise träumte Amanda nachts von einer Hammelkeule. In der Nacht darauf von Rinderfilet, ein wenig blutig. Tage später gestand sie es mir. Wir waren schon dabei, unsere Sachen zu packen. Sieben Monate waren herum, und es würde schwer sein, sich in Deutschland wieder einzuleben. Das wussten wir aus Erfahrung. Schwerer als umgekehrt in Asien anzukommen. Aber Fleisch? Ich hatte Fleisch völlig vergessen. Blutiges Rinderfilet in meinem Mund? Fleisch auf meinem Fleisch? Würde ich beim Kauen merken, ob es noch das Steak war oder schon meine eigene Zunge, die ich hinunterschlang?

Kaum waren wir zu Hause, ging Amanda auf den Markt und kam mit einer Hammelkeule zurück. Schön mit Knoblauch und Schalotten. Der Geruch zog durch die Wohnung. Wir sahen uns an und schnupperten. Es roch nach versenkter Haut und verbranntem Fleisch. Wir sahen besorgt in den Herd. Das Hammelbein war noch nicht gar. Wir stellten Teller auf den Tisch, legten Servietten, Gabeln und scharfe Messer dazu. Ich öffnete den Wein, Amanda ging in die Küche und kam mit dem geschmorten Körperteil zurück. Sie stellte es in die Mitte des Tisches. Wir setzten uns und sahen darauf. Ein zubereiteter Oberschenkel. Knochen schimmerten hell. Wir legten den amputierten Stumpf mit Bedauern in die Tiefkühltruhe. Wir waren völlig unbeabsichtigt Vegetarierinnen geworden.