Flagellanten im All

Mit „Short Shocks“ setzt das RA.M.M.-Theater im Tacheles seine „Zukunftsforschung“ fort. Es gibt Anschauungsunterricht im Rüschenhemd, Blinklichter und eine Fernbefruchtung  ■ Von Petra Kohse

Zukunftsprognosen sind unglaubwürdig oder deprimierend. In wenigen Jahrzehnten werden wir zwölf Milliarden sein, werden den letzten Käfer zertreten und das letzte Äffchen von seinem Baum gezerrt haben und müssen ganz sicher in Ein-Personen-Parzellen mit Beatmungsgeräten vor dem Computer unser Dasein fristen. „Es kommen härtere Tage“, schrieb auch schon Ingeborg Bachmann. Das RA.M.M.-Theater glaubt fest daran, und säumt nicht – „Bald mußt du den Schuh schnüren“ –, sich und uns darauf vorzubereiten.

Was bisher (im E-Werk) geschah

Im September traten RA.M.M. an einigen Wochenenden im E-Werk auf. Unter dem Titel „Zeichen eines Schockes“ wurde eine Mensch- Maschinen-Performance im Techno-Ambiente gezeigt, die mit Texten von Paul Virilio, einem Raumschiff, Lederbandagen, überdimensionalen Drehstühlen und Zitaten aus dem DDR-Rotkreuzbuch vom Ende der irdischen Geschichte erzählte: Stillstand durch Geschwindigkeit.

Das ist nicht neu, war aber auch nur der eine Teil der Botschaft. In ihrer „Produktions- und Forschungsstätte“ im mecklenburgischen Bröllin hatte sich RA.M.M. auch mit der Zukunftsfrage beschäftigt – und die einzelnen Teile der Performance stets doppelt konnotiert. Wenn sich etwa zwei Männer auf ihren Drehstühlen bei bis zu 80 Umdrehungen pro Minute über die Möglichkeiten außerirdischen Lebens unterhielten, sah man neben dem rasenden Stillstand auch eine durchaus elegante Übung in Sachen Contenance bewahren unter ungewöhnlichen Umständen.

Interaktivität als Wille und Vorstellung

Jetzt ist im Tacheles eine weitere Inszenierung zum Thema zu sehen – statt bloß „Zeichen eines Schockes“ gibt es „Short Shocks“ pur. RA.M.M. hat die Erde mittlerweile ganz verlassen und ist in einem galaktischen Irgendwo gelandet. Und bei diesem Riesensprung, der sich vermutlich in Lichtgeschwindigkeit vollzogen hat, hat sich so manche Dimension verschoben.

Angekündigt ist, daß die Zuschauer über Internet Verbindung zu den Künstlern aufnehmen und die Performance beeinflussen können. Doch im nebeldurchwaberten Theatersaal bietet kein einziges Terminal die Möglichkeit zur Interaktion. Man kann also nicht einmal fordern, daß die „Kommandobrücke“ in der Mitte des Raumes zur Seite geräumt wird, damit man alle Aktionsorte (Boxring und Bühne) gleichzeitig einsehen kann, wie es sich für eine interaktive Performance gehören würde.

Und man kann auch nicht auf der sofortigen Auslieferung der Fahrradblinklichter bestehen, die die Performer im Mund haben, als wären sie die Chorus Line in einer Geisterbahn. Zum Thema „Netz“ gibt es lediglich einen Bildschirm zu bewundern, der flimmernd eine vom Computer abgefilmte Seite zeigt, die sich bei der Premiere aber nicht wesentlich zu verändern schien.

In einer galaktischen Irgendwowelt?

Und natürlich gibt es die Performance. Im Boxring sagt ein Mann Text aus dem DDR-Rotkreuzbuch über Anzeichen eines Schockes auf, während ihn ein anderer immer wieder zu Boden wirft. Eine mit Plastikfolie umwickelte Frau liegt diodenbestückt auf einem Tisch und wird offensichtlich elektronisch fernbefruchtet, denn ein Kollege fuchtelt unweit von ihr mit einem Riesenpimmel herum und gibt stöhnend Befehle in einen Computer ein.

Andere Darsteller tragen Apparaturen voller Schläuche über Rüschenhemden und Miniröcken, rucken und zucken und hängen strampelnd in der Luft. Oder sie führen ihren Veitstanz in Overalls auf, die so geschnitten sind, daß es aussieht, als hätten die Performer keinen Kopf mehr.

Oder doch eher im irdischen Gestern?

Statt gefangener Körper und sich listig abkapselnder Gehirne geht es in „Short Shocks“ also nur noch um fast sprachlose, gequälte Körper; in der Zukunftsgalaxie von R.A.M.M.-Chef Arthur Kuggeleyn ist der Mensch nur mehr an Apparaten strampelndes Fleisch. Anders als in „Zeichen eines Schockes“ wird das Publikum auch nicht in die Choreographie eingebunden, gibt es keine verbindende Dramaturgie, und eine wie auch immer geartete geistige „Normalität“ aufrechtzuerhalten ist ausgeschlossen.

Kurioserweise will RA.M.M. mit dieser deprimierenden Tour de Force auch noch explizit die Techno-Kultur umarmen, zu der doch eigentlich gerade die Vision eines zukünftig vollkompatiblen friedlichen Miteinanders gehört. Nein, dieses Angebot, sich „geistig und körperlich auf den Auszug des menschlichen Lebens von unserem blauen Planeten vorzubereiten“ (Programmzettel) denkt nicht in allergeringster Weise die Bedingungen unserer Gegenwart weiter, sondern droht eher mit dem Rückfall in frühere Zeiten. Kasteiungsrituale statt Spaceshuttle – das Aktionstheater RA.M.M. ist unter die Flagellanten gegangen.

„Short Shocks“ von RA.M.M., mit Arthur Kuggeleyn, Heidi Fichtner, Chris Krapf u.a., weitere Vorstellungen: 12./13. 1. und 19./20. 1., 21 Uhr, Tacheles, Oranienburger Straße, Mitte