Finale der Leipziger Buchmesse 2014: Diskurs, Herkunft und Tanz
Dreimal Leipzig, drei Debatten: Pankaj Mishra wettert gegen den „rassisch-exklusiven Klub Europas“. E-Books haben es schwer. Und die deutsche Literatur ist wohlauf.
Pauschale Anklage
Es gibt Debatten, die sind nicht totzukriegen. Eine solche ist die ewige Mär vom bösen Westen und den guten außereuropäischen Gesellschaften. Nach Kolonialismus, zwei Weltkriegen und Nationalsozialismus sind die aufgeklärten Westeuropäer deswegen besonders gerne bereit, sich in aufklärerischer Demut ab und an eine gehörige Abreibung verpassen zu lassen, eine Art Ablasshandel für tatsächlich bis heute feststellbare Entwicklungsunterschiede auf den verschiedenen Kontinenten unserer lieben Erde.
Als antiwestlicher Peitschenschwinger kam dieses Jahr der in London und Nordindien lebende Autor Pankaj Mishra nach Sachsen gereist. Im vergangenen Jahr erschien im S. Fischer Verlag sein Buch „Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens“, wofür er nun in Leipzig mit dem Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wurde. Doch wie kann ein dermaßen vor sich hin ethnisierender Vertreter der asiatischen Renaissance tatsächlich zur interkontinentalen Verständigung beitragen?
In seiner Leipziger Dankesrede beanspruchte Mishra nicht weniger, als für „hunderte Millionen Asiaten“ sprechen zu können. Und wie er das tat: „Die Idee Europas als Verkörperung von Vernunft und Freiheit wurde von Asiaten niemals uneingeschränkt geteilt und kann auch nicht von ihnen geteilt werden.“ Und: „Erst in jüngster Zeit haben die Türken die bittere Erfahrung eines gescheiterten Versuchs gemacht, in den rassisch-exklusiven Klub Europas aufgenommen zu werden.“
Na, wie klingt das? Gar nicht so übel, könnte man vielleicht als aufgeklärt selbstkritischer Europäer meinen. Doch so einfach liegen die Dinge nicht. Europa und die historische Phase des Kolonialismus sind nicht ursächlich für alle Missstände dieser Welt. Da ist die postkoloniale Diskussion längst weiter. Deren aktuelle Themen: Korruptheit und schlechtes Regieren der eigenen postkolonialen Eliten. Das mangelnde Demokratie- und Rechtsstaatsverständnis von Erdogan in der Türkei, die Arabellion, der chinesische Staatskapitalismus samt Einparteiendiktatur oder mangelnde Frauenrechte und Kastenwesen in Indien. Der Feind sitzt „im eigenen Land“, nicht im von den Mishras mal bewunderten, mal verachteten „imperialen“ Westen.
Wer den Westen wie Mishra in Leipzig pauschal anklagt, aber vor den Menschenrechtsverbrechen der außereuropäischen Regime schweigt, klingt nach einem Lautsprecher national(religiös)er Chauvinisten. Als weitaus einflussreicher als das „verbrecherische Projekt des Nationalsozialismus“ bezeichnet Mishra das Selbstverständnis der „Europäer als Herrenrasse“, welches „bis heute ein erstaunliches Maß an Legitimation“ genieße. Sein Leipziger Diskurs zielte dabei auf aktuelle Politik, nicht Geschichte. Eine Kritik des historischen europäischen Kolonialismus ist selbstverständlich. Doch wer diese nur dazu benutzt, um menschenrechtlichen Universalismus, Liberalismus und das Konzept der individuellen Freiheit als „imperialistisch“ zu denunzieren, sollte besser mit der europäischen Neuen Rechten diskutieren.
Erstaunlich, dass dies in Leipzig niemand bemerken wollte. Dort schienen Mishras Ansichten wie die berühmte Faust aufs Auge des Folklorewesens im hiesigen Literaturbetrieb zu passen. Vorgestern Walser, gestern Lewitscharoff, heute eben Mishra. Einmal auspeitschen, bitte. ANDREAS FANIZADEH
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Und (fast) alle sind sich einig
Wer schreibt das spannendere Buch? Die wohlbehütete Professorentochter oder der traumatisierte Kriegsflüchtling? Klar, die Frage ist unsinnig und führt nirgendwohin. Und doch hat die Debatte um die deutsche Gegenwartsliteratur einen Moment der Selbstreflexion erreicht, der wichtig ist. Dabei geht es weniger darum, ob und wie öde sie ist, sondern wie offen die Türen eigentlich für jene stehen, die nicht in einem deutschen Bildungsbürgerhaushalt aufgewachsen sind und das Schreiben an offiziellen Institutionen erlernt haben.
Eine Podiumsdiskussion im Leipziger Literaturinstitut zu ebendiesem Thema hätte hier anknüpfen können. Tat sie aber nicht. Stattdessen durfte Florian Kessler, der mit seinem Essay (Die Zeit vom 16. 1. 2014: „Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!“) diese Debatte angestoßen hatte, seine durchaus kontroversen Thesen erst mal allesamt relativieren. Es habe sich lediglich um eine „hölzerne Polemik“ gehandelt, die er für „einige hundert Euro“ als Vorabdruck der Zeit verkaufte.
Der Digitalverlag mikrotext, der den Essay für die Anthologie „Irgendwas mit Schreiben. Diplomautoren im Beruf“ in Auftrag gab, habe nämlich keinen Vorschuss auszahlen können. Mikrotext-Verlegerin Nikola Richter wiederum ist auch da und beschwert sich darüber, dass die Zeit nicht auf ihren Verlag hingewiesen habe, dass ihr Verlag sowieso selten ernst genommen werde, weil er nur E-Books herausgebe, und dass alle Feuilletons immer nur das Gleiche besprechen würden. Elisabeth Ruge, Ex-Hanser-Mitarbeiterin und Agenturinhaberin, stimmt dem zu und befindet, dass die Gegenwartsliteratur keineswegs bieder sei und man doch nur einen Blick in die Nischen werfen müsse. Wie schön, dass sich alle so einig sind.
Das Stichwort Herkunft allerdings kommt erst recht spät ins Spiel. Das ist schade. War doch Kesslers These, dass die Homogenisierung des Betriebs damit einhergehe, dass alle jungen Autoren aus demselben Milieu und aus denselben Literaturinstituten stammten, der vielleicht interessanteste Aspekt seines Essays. „Der klapprigste Teil der Polemik, der am leichtesten auseinanderfällt“, sagt er im Nachhinein. Dennoch findet er, sollten wir nicht nur ästhetische Debatten führen, sondern auch soziologische. Guido Graf, Dozent am Hildesheimer Institut für Literarisches Schreiben, fällt dazu nur ein, dass man überlege, beim Aufnahmeverfahren Fotos der Bewerber zu verbieten. Problemlösung at its best.
Ein angenehmes, weil deutlich kritischeres Gesicht in der Runde ist das von Schriftstellerin Nora Bossong. Reden sei schön, wenn man einen Gegenstand hätte, über den man reden kann, gibt sie zu bedenken. Doch da sich der Literaturbetrieb nur für sich selbst interessiere, handle es sich um eine In-Group-Debatte und sei somit soziologisch irrelevant. Das Publikum besteht übrigens fast nur aus Studenten des Leipziger Literaturinstituts. Im Anschluss unterhält man sich bei Weißwein und Zigarette. „Wenn man nicht irgendwo im Ausland aufgewachsen ist und einen Krieg miterlebt hat“, sagt eine Studentin zum Kommilitonen, „dann kann man eben auch nicht darüber schreiben.“ FATMA AYDEMIR
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Nicht nur Biedermeier!
Sasa Stanisic hat für seinen Roman „Vor dem Fest“ den Preis der Leipziger Buchmesse verliehen bekommen. Anhand der Geschichte einer uckermärkischen Gemeinde entwirft der Autor eine Weltgeschichte im Kleinen, in der die Generationen der Ahnen immer präsent sind, und sei es auch nur als gewitzte Erzählung, die sich die Archivarin des schrumpfenden Dorfs ausgedacht hat. Seinem Roman hat Stanisic ein Zitat eines britischen Rappers vorangestellt, der darüber sinniert, wie unwahrscheinlich es ist, das Ergebnis eines Überlebens zu sein, das sich über Milliarden von Jahren spannt.
Vor der Messe hatte den Betrieb die Frage umgetrieben, ob die deutsche Literatur immer selbstbezogener und provinzieller werde, wie Maxim Biller mutmaßte. Die Kinder und Enkel der Migranten – in der Gesellschaft Teil eines radikalen Prozesses der Erneuerung - erzählten nicht vom Fremdsein. Eines der Beispiele, die Biller nannte, war der Roman von Sasa Stanisic, den viele auf der Messe gut fanden, während sich andere fragten, was der Punkt dieses perfekt geschriebenen Text sei.
Billers Polemik gegen die neue Biederkeit ist im Kern richtig, im Detail falsch. Nicht nur Sasa Stanisic, auch Feridun Zaimoglu warf er Anpassertum vor. Dabei zeigt Zaimoglus Roman „Isabel“, dass man mit Identitätshuberei, zu der das Beharren auf dem großen Herkunftsunterschied schnell werden kann, der Wahrheit auch nicht näher kommt. Seine Titelheldin ist von einer Wut ergriffen, die sie von den anderen (vor allem von den Männern) absondert – und das ist nicht so, weil ihre Eltern Türken sind, sondern weil sie als Mensch und Individuum beschädigt ist. In „Isabel“ erfindet Zaimoglu einmal mehr eine Schreibweise für das, was abseits bürgerlicher Bildungsklischees gedacht und geredet wird. In die Shortlist des Buchpreises ist der Roman nicht aufgenommen worden.
Zwei der Bücher, die auf der Shortlist standen, sind von „Migranten“ geschrieben worden. „Vor dem Fest“ von Stanisic ist das eine, „Vielleicht Esther“ von Katja Petrowskaja das andere. Erst am Ende einer langen Auseinandersetzung innerhalb der Jury hat man sich entschieden. Beinahe wäre also Petrowskajas Buch ausgezeichnet worden, dessen Sätze in Spiralen um die verschüttete Familiengeschichte der Erzählerin kreisen.
Der Schmerz des Verlusts hat seinen Ursprung in Berlin, der Stadt, in der Katja Petrowskaja aus Kiew seit 1999 lebt, aber auch in der Geschichte der Sowjetunion. Als letztes Enkelkind der UdSSR fühlt sich die Autorin, die eigentlich Stern hieße, hätte nicht ihr Großvater Schimon Stern als Kommunist im Untergrund den Decknamen Semjon Petrowskij angenommen.
Katja Petrowskajas Vorfahren, von denen einige in der Schlucht von Babij Jar ermordet worden sind, waren über Generationen hinweg als Taubstummenlehrer tätig. In ihren eigenen Gesten halle die Gebärdensprache nach, ohne von den Händen noch beherrscht zu werden, schreibt sie. Wenn man Katja Petrowskaja am Abend nach der Preisverleihung beim Tanzen zusah, meinte man das sehen zu können. Solange Katja Petrowskaja so wunderbar schreibt, wie sie tanzt, ist die deutsche Literatur wohlauf. ULRICH GUTMAIR
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