Filmtriologie aus Halle-Neustadt: Erwachen ins eigene Leben
Seit den Neunziger dreht Regisseur Thomas Heise in Halle-Neustadt. Im dritten Film "Kinder. Wie die Zeit vergeht" wird der Gang der Geschichte selbst zum Ereignis.
Geschichte misst sich an Ereignissen. Es gibt Ereignisse, auf die sehr viele Menschen sich beziehen können, wie die Anschläge in New York vom 11. September 2001. Und es gibt Ereignisse, auf die nur bestimmte Menschen sich beziehen können. Der Satz "Lord Ulli ist tot" bedeutet den meisten Menschen nichts, für den Raffinerieangestellten Heinz aus der Gegend von Halle in Sachsen-Anhalt sehr viel. Lord Ulli war der Frontmann der Band The Lords. Er brach im Oktober 1999 auf offener Bühne zusammen und starb wenige Tage später in einem Krankenhaus in Potsdam. Es war das Jubiläumskonzert zum 40-jährigen Bestehen der Band, die in den Sechzigerjahren in der DDR mindestens so populär war wie in der BRD.
"Lord Ulli ist tot" bezeichnet ein Datum der deutsch-deutschen Geschichte, das in der Geschichtsschreibung vielleicht nicht immer die gebührende Berücksichtigung findet. In den Filmen von Thomas Heise aber geht es genau um diese Daten - sie bilden den äußeren Rand eines Lebens in Gesellschaft, das seine eigene Geschichte schreibt und nur selten mit den großen Vorgängen auf der Ebene des Staats und der Politik in Beziehung tritt. Seit den frühen Neunzigerjahren begleitet Heise nun schon diese große Familie aus Halle-Neustadt, die aus der Ehe von Heinz und Ingrid hervorgegangen ist - einer Ehe, die nur zustande kam, wie an einer Stelle des neuen Films lachend vorgebracht wird, weil Heinz seine große Jugendliebe Uschi, die Moderatorin der Sendung "Beat-Club", nie persönlich traf. Der "Beat-Club" war in den Sechzigern die wahrscheinlich wichtigste Fernsehsendung für Teenager in Ost und West. Heinz teilte seine Liebe mit einer ganzen Generation.
Die Sache mit den Lords hat ein wenig mit Nostalgie zu tun. Dazu würde diese Redensart gut passen, von der Thomas Heise ausgeht: "Kinder, wie die Zeit vergeht". Sein Film aber heißt anders: "Kinder. Wie die Zeit vergeht". Der Unterschied ist einer wie zwischen dem Volksmund und einem Text von Brecht. Das eine bedingt das andere. Das, was alle sagen, macht erst die Bearbeitung des Dichters möglich. So werden Sätze, Geschichten, Bilder resonant.
In "Kinder. Wie die Zeit vergeht" steht Jeanette Gleffe im Zentrum, die einzige Tochter von Heinz und Inge. Sie ist nun Anfang dreißig, Buslenkerin im öffentlichen Verkehr von Leipzig. Mit ihrem neuen Lebensgefährtin Guido hat sie eine Tochter bekommen, Annabelle. Die beiden Söhne Tommy und Paule sind schon ein wenig älter. Tommy ist ein Teenager und ein echtes Problemkind. Paule steht vor der Entscheidung, ob er auf das Gymnasium oder in die Mittelschule gehen soll. Er ist brav, aus ihm kann etwas werden. Jeanette hat sich versprochen, dass sie mit dem Mann, von dem sie eine Tochter bekommt, zusammenbleiben will. In ihrem Leben ist ein wenig Ruhe eingekehrt, nur der schwierige Tommy macht ihr zu schaffen. Sie hat ihn aus der Wohnung geschmissen, weil sie mit seinem Umgang nicht einverstanden ist.
Man muss schon sehr genau hinsehen, um gleich zu bemerken, dass in "Kinder. Wie die Zeit vergeht" nicht alle Aufnahmen aus der unmittelbaren Vergangenheit sind. Thomas Heise verwendet auch Material, das von seinem Film "Neustadt" (1999) übriggeblieben ist. Er macht die beiden Zeiten durchlässig, denn es gibt in dem neuen Film keine ausdrücklichen Hinweise darauf, was unlängst und was schon vor 1999 gedreht wurde. Man muss sich da ein ganz schön kompliziertes Familienbild zusammensetzen aus Szenen, die alle in dem gleichen, distanzierenden Schwarzweiß gehalten sind und in ihrer kontemplativen Ruhe manchmal fast übersehen lassen, dass es um lebenswichtige Fragen geht: "Wie gehts weiter?"
Tommy Gleffe ist eigentlich zu jung, um diese Frage schon ganz für sich zu beantworten. Aber er hat sich in eine Situation gebracht, in der ihm die Chancen ausgehen. Ein Pädagoge, dem er bei einem Beratungsgespräch gegenübersitzt, rechnet ihm kühl die Konstellation vor: Er hat sich um den Rückhalt seiner Familie gebracht und um den der Schule, nun muss er achtgeben, dass er nicht auch noch seine Freundin verliert. Einige Szenen später taucht Tommy bei einer Party wieder auf, die Stimmung ist ausgelassen, er ist wohl auch betrunken und wendet sich direkt in die Kamera: "Hallo, ich bin Tommy, ich suche eine Freundin." Die Mädchen, die im Hintergrund tanzen, trinken harte Getränke aus der Flasche.
Thomas Heises Kunst besteht darin, in Szenen wie dieser eine Geschichte Deutschlands zu schreiben. Als er 1992 zum ersten Mal in Halle-Neustadt drehte, für den Film "Stau - Jetzt gehts los", war die DDR noch ganz nahe und das wiedervereinigte Deutschland noch eine seltsame Größe. Inzwischen haben sich viele Dinge geändert. Im Nahverkehr des Großraums Leipzig wurde viel Geld investiert, das ist deutlich zu sehen, während andererseits viele Gebäude in der Gegend Ruinen sind. Die Raffinerie in Leuna gehört nun dem französischen Multi Total. Die nationalen Kräfte in der Gegend beziehen sich in ihrer Propaganda auf Berlin: "Ruetli ist überall", heißt es auf einem Graffiti, dessen Urheber deutsche Schulen deutschen Kindern vorbehalten möchte.
Paul, der kleinere Sohn von Jeanette, spielt Fußball. Er setzt sich vor die Kamera, liest sein Zeugnis vor und macht sich Gedanken darüber, wie er wohl später im Film wirken wird. Unübersehbar hat Thomas Heise ein großes Vertrauensverhältnis zu dieser Familie geschaffen. In "Kinder. Wie die Zeit vergeht" geht es nun aber zum ersten Mal um mehr als nur eine "Geschichte von unten", um eine Chronik des alltäglichen Lebens in einer Gegend, die früher einmal DDR war. Unübersehbar ist Thomas Heise dieses Mal an einer stärker ästhetisierten Form gelegen. Die schwarzweiß gehaltenen Aufnahmen verleihen allen Personen eine eigene Schönheit, die nicht so sehr individuell ist als dieser besonderen Qualität des filmischen Bildes geschuldet, die vielfach mit dem Ablauf der Zeit in Verbindung gebracht wurde. Heise filmt die Figuren, als wären sie ein wenig entrückt.
Dazu passt, dass viele Passagen eben schon fast zehn Jahre alt sind und dass die Übergänge zwischen den Zeit- und Lebensaltern fließend erscheinen. Es wird kein Zufall sein, dass der Regisseur in "Kinder. Wie die Zeit vergeht" mit langen Fahrtaufnahmen anfängt und an einer bezeichnenden Stelle die Kinder filmt, die auf dem Rücksitz eines fahrenden Autos schlafen. Der dort angedeutete Gedanke - dass man in sein eigenes Leben erst erwachen muss - ist die Kehrseite des frühen Ernsts, mit dem Tommy und Paule konfrontiert sind.
Das Musikstück "The Unanswered Question" von Charles Ives dient Heise gegen Ende von "Kinder. Wie die Zeit vergeht" zu einer in dieser Form unerwarteten und in seinem Werk neuen Betrachtung über die latente Verlorenheit der Menschen in der Zeit. Weiter denn je ist der Regisseur hier vom Format der Reportage entfernt. Mit seinem Kameramann Börres Weiffenbach und dem Tonmann Uve Haußig hat er dieses Mal ein dicht verwobenes, elegisches Kunstwerk geschaffen, in dem nicht selten die Einheit von Raum und Zeit, Ton und Bild - ein altes Dogma des "materialistischen" Kinos - souverän aufgehoben wird. Stattdessen dringt in die Fugen von "Kinder. Wie die Zeit vergeht" ein künstlerisches Bewusstsein von Geschichtlichkeit, das den Figuren aber keine Gewalt antut. Sie bleiben so konkret wie eh und je, und werden doch transzendiert auf eine andere Geschichte als immer wieder nur die nationale oder gar nationalistische, von der die Rezeption von "Stau - Jetzt gehts los" und "Neustadt" bestimmt worden war. In "Kinder. Wie die Zeit vergeht" wird die Geschichte selbst zum Ereignis, und sie zeigt bei allen unbeantwortbaren Fragen eine ungewohnte Schönheit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“